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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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passiert war, doch leider hat Sie das bloß zu der Überzeugung gebracht, jemand anders hätte alle vorherigen Einträge geschrieben. Sie begannen zu glauben, man würde hier Versuche mit Ihnen durchführen, Sie gegen Ihren Willen festhalten.«
    Ich sah wieder auf die Seite. Die Einträge waren fast alle identisch, lagen jeweils nur ein paar Minuten auseinander. Mir wurde kalt.
    »Ging es mir wirklich so schlecht?«, fragte ich. Meine Worte schienen in meinem Kopf widerzuhallen.
    »Eine Zeitlang ja«, sagte Dr. Nash. »Ihre Einträge deuten darauf hin, dass Sie Erinnerungen nur wenige Sekunden behalten konnten. Manchmal ein oder zwei Minuten. Diese Zeitspanne ist im Laufe der Jahre langsam immer länger geworden.«
    Ich konnte nicht fassen, dass ich das geschrieben hatte. Es wirkte wie das Werk eines Menschen, dessen Verstand völlig zersplittert ist. Explodiert. Ich sah die Worte wieder.
Es war, als wäre ich
TOT .
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich kann nicht –«
    Dr. Wilson nahm mir das Blatt aus der Hand. »Ich verstehe, Christine. Es ist beängstigend. Ich –«
    Panik erfasste mich. Ich stand auf, doch der Raum fing an, sich zu drehen. »Ich möchte gehen«, sagte ich. »Das da bin ich nicht. Das kann ich nicht gewesen sein, ich – ich hätte niemals jemanden geschlagen. Niemals. Ich –«
    Auch Dr. Nash stand auf und dann Dr. Wilson. Sie trat einen Schritt vor, stieß gegen den Schreibtisch, und Unterlagen rutschten zu Boden. Ein Foto landete zu meinen Füßen. »Großer Gott –«, sagte ich, und Dr. Wilson blickte nach unten, dann bückte sie sich rasch, um es mit einem anderen Blatt abzudecken. Doch ich hatte genug gesehen.
    »War ich das?«, sagte ich mit einer Stimme, die sich zu einem Schrei erhob. »War ich das?«
    Das Foto zeigte den Kopf einer jungen Frau. Die Haare waren aus dem Gesicht nach hinten gezogen. Zuerst dachte ich, sie würde eine Halloween-Maske tragen. Ein Auge war geöffnet und blickte in die Kamera, das andere zugeschwollen und von einem großen, lila Bluterguss umgeben. Die Lippen waren dick geschwollen, rosa, von Rissen durchzogen. Die Wangen waren aufgequollen, was das ganze Gesicht grotesk aussehen ließ. Ich dachte an zermatschtes Obst, an verfaulte und aufgeplatzte Pflaumen.
    »War ich das?«, schrie ich, obwohl ich mich in diesem geschwollenen, verzerrten Gesicht erkannt hatte.
     
    An dieser Stelle spaltet sich meine Erinnerung, zerbricht in zwei Hälften. Ein Teil von mir war ruhig, still. Abgeklärt. Er beobachtete, wie der andere Teil von mir um sich schlug und schrie und von Dr. Nash und Dr. Wilson gebändigt werden musste.
Du solltest dich wirklich benehmen
, schien er zu sagen.
Das ist ja peinlich
.
    Doch der andere Teil war stärker. Er hatte das Ruder übernommen, wurde das wirkliche Ich. Ich schrie, wieder und wieder, drehte mich um und lief zur Tür. Dr. Nash kam hinter mir her. Ich riss die Tür auf und rannte los, ohne zu wissen, wohin. Das Bild von verriegelten Türen. Eine Alarmsirene. Ein Mann, der mich verfolgte. Mein Sohn, der weinte.
Ich hab das schon einmal gemacht
, dachte ich.
Ich hab das alles schon einmal gemacht
.
    Dann nichts mehr.
     
    Sie müssen mich irgendwie beruhigt haben, mich überredet haben, mit Dr. Nash mitzugehen; als Nächstes weiß ich wieder, dass ich in seinem Auto saß, neben ihm, während er fuhr. Der Himmel zog sich langsam zu, die Straßen wirkten grau, irgendwie flächig. Dr. Nash redete, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Es war, als wäre mein Verstand gestolpert, in irgendetwas anderes zurückgefallen, als käme ich jetzt nicht mehr mit. Ich blickte aus dem Fenster, auf die Menschen, die einkaufen gingen, die Hundeausführer, die Leute mit ihren Kinderwagen und Fahrrädern, und ich fragte mich, ob ich das – diese Suche nach Wahrheit – wirklich wollte. Ja, es könnte mir helfen, Fortschritte zu machen, aber was für Fortschritte kann ich mir realistischerweise erhoffen? Ich denke nicht, dass ich irgendwann morgens aufwachen und alles wissen werde, wie normale Menschen, dass ich wissen werde, was ich am Tag zuvor gemacht habe, welche Pläne ich für den kommenden Tag geschmiedet habe, was für ein Umweg mich ins Hier und Jetzt geführt hat, zu dem Menschen, der ich bin. Ich kann höchstens hoffen, dass ich eines Tages beim Blick in den Spiegel nicht total schockiert sein werde, dass ich mich daran erinnern werde, einen Mann namens Ben geheiratet und einen Sohn namens Adam verloren zu haben, dass ich,

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