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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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Kummer. Es fühlte sich besser an, irgendwie, hilflos zu sein. Ich schämte mich nicht. Dr. Nash redete auf mich ein, sagte zuerst, ich solle nicht verzweifeln, es würde alles gut, und dann, ich solle mich beruhigen. Ich konnte mich nicht beruhigen und ich wollte es nicht.
    Er hielt den Wagen an. Stellte den Motor ab. Ich öffnete die Augen. Wir waren von der Hauptstraße abgebogen, und vor mir war ein Park. Durch den Tränenschleier hindurch konnte ich undeutlich eine Gruppe Jungen erkennen – Teenager, vermutlich. Sie spielten Fußball, und zwei Haufen aus Jacken dienten als Torpfosten. Es hatte angefangen zu regnen, doch sie hörten nicht auf. Dr. Nash wandte sich mir zu.
    »Christine«, sagte er. »Es tut mir leid. Vielleicht war das heute ein Fehler. Ich weiß nicht. Ich dachte, wir könnten weitere Erinnerungen auslösen. Ich habe mich geirrt. Auf keinen Fall hätten Sie das Foto sehen dürfen.«
    »Ich weiß nicht mal, ob es an dem Foto lag«, sagte ich. Ich hatte jetzt aufgehört zu schluchzen, doch mein Gesicht war nass. Ich spürte, dass mir dünnflüssiger Schleim aus der Nase lief. »Haben Sie ein Taschentuch?«, fragte ich. Er griff an mir vorbei und kramte im Handschuhfach herum. »Es lag an allem«, fuhr ich fort. »Der Anblick der Menschen dort, die Vorstellung, dass ich auch mal so war. Und diese Aufzeichnungen! Ich kann nicht glauben, dass ich das war, die das geschrieben hat. Ich kann nicht glauben, dass ich so krank war.«
    Er reichte mir ein Papiertaschentuch. »Aber Sie sind es nicht mehr«, sagte er.
    Ich nahm es und putzte mir die Nase. »Vielleicht ist es schlimmer«, sagte ich leise. »Ich habe geschrieben, es war so, als wäre ich tot. Aber das jetzt? Das ist schlimmer. Es ist wie sterben, jeden Tag. Immer und immer wieder. Ich muss wieder gesund werden«, sagte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, noch sehr viel länger so weiterzumachen. Ich weiß, ich werde heute Nacht einschlafen, und ich werde morgen aufwachen und nichts mehr wissen, und am nächsten Tag und am übernächsten, für alle Zeit. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich ertrage das nicht. Das ist kein Leben, das ist bloß ein Vegetieren von einem Moment zum nächsten, ohne eine Vorstellung von der Vergangenheit und ohne einen Plan für die Zukunft. So muss es für Tiere sein. Das Schlimmste ist, dass ich nicht mal weiß, was ich nicht weiß. Vielleicht lauern ja noch jede Menge Dinge darauf, mir weh zu tun. Dinge, die ich mir nicht mal im Traum vorstellen kann.«
    Er legte seine Hand auf meine. Ich ließ mich gegen ihn fallen, wusste, was er tun würde, was er tun musste, und er tat es. Er öffnete die Arme und hielt mich, und ich ließ mich von ihm umarmen. »Ist ja gut«, sagte er. »Ist ja gut.« Ich spürte seine Brust unter meiner Wange, und ich atmete, sog seinen Geruch ein, frische Wäsche und schwach etwas anderes. Schweiß und Sex. Seine Hand war auf meinem Rücken, und ich spürte, wie sie sich bewegte, spürte, wie sie mein Haar berührte, meinen Kopf, zunächst leicht, doch dann fester, während ich wieder schluchzte. »Es wird alles gut«, flüsterte er, und ich schloss die Augen.
    »Ich will mich bloß daran erinnern, was passiert ist«, sagte ich. »An dem Abend, als ich angegriffen wurde. Irgendwie habe ich das Gefühl, wenn ich mich daran erinnern könnte, dann könnte ich mich an alles erinnern.«
    Er sprach sanft. »Es gibt keine Garantie dafür, dass dem so ist. Keinen Grund –«
    »Aber ich glaube es«, sagte ich. »Ich weiß es, irgendwie.«
    Er zog mich näher. Sacht, fast so sacht, dass ich es nicht spürte. Ich spürte seinen Körper, dicht an meinem, und atmete tief ein, und dabei dachte ich an ein anderes Mal, als mich jemand hielt. Eine andere Erinnerung.
    Meine Augen sind geschlossen, genau wie jetzt, und mein Körper ist gegen einen anderen gepresst, obwohl es anders ist. Ich möchte nicht von diesem Mann gehalten werden. Er tut mir weh. Ich wehre mich, versuche, mich loszureißen, doch er ist stark und hält mich fest. Er spricht.
Miststück
, sagt er.
Schlampe
, und obwohl ich ihm widersprechen möchte, sage ich nichts. Mein Gesicht ist gegen sein Hemd gedrückt, und genau wie bei Dr. Nash weine ich, schreie ich. Ich öffne die Augen und sehe den blauen Stoff seines Hemds, eine Tür, eine Frisierkommode mit drei Spiegeln und darüber ein Bild – ein Gemälde von einem Vogel. Ich kann seinen Arm sehen, stark, muskulös, eine Ader über die ganze Länge.
Lass mich los!,
sage ich, und

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