Ich darf nicht vergessen
den Künstlern kommen die Tiere. Und was für Tiere! Keine, die Gott erschaffen hat. Fabelwesen mit Löwenköpfen und groÃen Masken in Gestalt von Kindergesichtern. Ein Rudel Katzen, die im Mondlicht im Stechschritt marschieren.
Das alles erinnert dich an die wunderbaren und schrecklichen Bücher aus deiner Kindheit. In einem wurde einem Jungen die Macht verliehen, in den Herzen und Seelen von Lebewesen zu lesen, indem er die Form ihrer Hände ertastete. Für ihn fühlten sich die Hände von Königen und Höflingen häufig an wie BocksfüÃe, während sich die Hände von ehrbaren Arbeitern dagegen anfühlten wie die von Edelleuten.
Die Vorstellung, dass man ohne eine solche Gabe das Wesen der Geschöpfe um einen herum nicht erkennen konnte, war schreckenerregend. Abends im Bett hast du deine eigenen Hände betastet, um zu bestimmen, was du warst. Mensch oder Tier?
Gegenüber der Bank, auf der du sitzt, auf der anderen Seite des FuÃwegs, befindet sich eine niedrige Steinmauer, die das Gras des Parks von dem Sand eines schmalen Strands trennt. Es steht etwas darauf geschrieben. Eine heilige Inschrift. Breite, mit schwarzer Farbe gemalte Striche, rot konturiert. Akzentuiert durch ein grinsendes Gesicht. Es übermittelt eine Botschaft. Aber welche?
Der Umzug ist zu Ende. Die Leute verteilen sich, ziehen weiter zu anderen Festen. Die Hunde sind verschwunden, die Kinder werden auf Schultern gehoben und nach Hause ins Bett gebracht. Stille legt sich über alles. Du schlieÃt die Augen und genieÃt sie.
D u schreckst aus dem Schlaf. Eine Hand liegt auf deinem Arm, gleitet daran herunter. Verblüfft stellst du fest, dass immer noch Nacht ist, aber so hell, dass du lesen könntest. Die Hand gehört einem Fremden, einem jüngeren Mann, er ist schmuddelig, und er trägt eine Fischermütze und eine Armeejacke. Als er sieht, dass du wach bist, nimmt er seine Hand weg.
Hätten Sie vielleicht ein bisschen Geld, das Sie mir leihen können?, fragt er.
Normalerweise würdest du einfach Nein sagen. Du spendest deine Zeit und dein Geld der Sozialklinik. Aber heute Abend ist alles anders. So wohl, wie du dich fühlst. Die Schönheit, die dich umgibt. Du fragst dich, was du empfinden würdest, wenn du seine Hand nähmst.
Du siehst dich nach deiner Handtasche um. Aber die ist nicht da. Du fühlst in deinen Taschen, kann ja sein, dass du nur dein Portemonnaie oder deinen Führerschein und die Kreditkarte eingesteckt hast. Nichts. Der Mann sieht dir bei deinen Verrenkungen zu.
Sie hätten hier nicht schlafen dürfen, sagt er. Wahrscheinlich ist jemand vor mir hier gewesen. Jemand, der nicht so nett war wie ich.
Er fischt eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche seiner Jacke und bietet dir eine an. Als du ablehnst, zündet er sich selbst eine an und lehnt sich auf der Bank zurück.
Als ich Sie gesehen hab, da dachte ich mir, was macht so eine nette Lady mitten in der Nacht hier im Lincoln Park?, sagt er. Hab mich echt gewundert. Aber wo sind denn Ihre Schuhe?
Du schaust nach unten. Du bist barfuÃ, und deine FüÃe sind ganz schmutzig. An deinem Knöchel klebt ein bisschen geronnenes Blut. Du bückst dich und ziehst eine kleine Glasscherbe heraus. Der Saum deiner Hosenbeine ist voller Schlamm.
Sie waren wohl plantschen, sagt der Mann. Das kann ich gut verstehen. Es ist die richtige Nacht für so was.
Dir fällt auf, dass es nicht mehr so still ist. Zwar haben die Grillen aufgehört zu singen, und die Verkehrsgeräusche in der Ferne sind leiser geworden, aber dafür gibt es jetzt andere Geräusche. Du merkst, dass ihr beide nicht allein seid. Auf der Wiese um euch herum bewegen sich überall dunkle Gestalten, Leute schieben Wagen, breiten Decken aus. Ein Mann und eine Frau mühen sich mit einem Berg Stoff ab, der sich als kleines Zelt entpuppt. Ein Lager wird aufgebaut.
Der Mann redet und raucht.
Sie sind neu. Wahrscheinlich ziehen Sie die Notunterkünfte vor. Das tun die meisten Frauen. Da kann man sich leichter sauber halten. Aber mir sind die Regeln da zu streng. Ab neun Uhr Nachtruhe. Kein Alkohol. Rauchen verboten. Nicht vor sechs Uhr aufstehen.
Sie müssen ein Nachtmensch sein, sagst du. Bin ich auch immer gewesen. Ich bin eine Wanderin.
Wanderin. Wandern. Wanderlust. Es gefällt dir, wie die Wörter klingen, als du sie aussprichst.
Sie sagen es. Ich bin nachts am liebsten im Park. Sagen Sie
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