Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
Vom Netzwerk:
Bekannter, sagst du. Ich glaube, er könnte mein Neffe sein.
    Sie glauben? Die junge Frau lacht, dann sieht sie dich an und wird ernst.
    Ein Bild taucht vor dir auf. Ein trauriges Gesicht. Schmale Schultern, die zittern. Eine verzweifelte Frau. Ihr Gesicht ist dir vertraut.
    Fiona, sagst du langsam. Fiona kenne ich auch, eine Frau, die ich sehr bewundere und die sich in Schwierigkeiten gebracht hat. Mark dagegen. Du überlegst. Mark hat schon immer in Schwierigkeiten gesteckt.
    Die junge Frau wirkt verdattert. Fiona?
    Fiona weiß immer genau, was sie will und wie sie es bekommt, sagst du nachdenklich. Aber manchmal ist das gar nicht gut. Nein.
    Solche Leute sind mir meistens nicht besonders sympathisch, sagt die junge Frau.
    Nein. Fiona würde Ihnen gefallen.
    Die junge Frau nickt höflich. Sie hat das Interesse daran verloren, über Leute zu reden, die sie nicht kennt. Sie flüstert dem Mann neben ihr etwas zu, und er lächelt sie an. Er hat seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zugewandt. Gerade laufen die Nachrichten, alles schlechte. Naturkatastrophen und solche, die von Menschenhand verursacht wurden. Millionen von Menschen, die ihr Geld verloren haben. Zunahme von Überschwemmungen. Ungelöste Morde.
    Du hast deinen Teller leergegessen, und deine beiden Gläser, das große und das kleine, sind auch leer. Der massige Mann steht am anderen Ende des Tresens und redet mit einem Mann im Anzug.
    Wissen Sie, wo die Toiletten sind?, fragst du. Die junge Frau zeigt in die Richtung. Dahinten. Gleich neben dem Eingang.
    Du steigst vom Hocker, stolperst leicht. Tastest dich durch den überfüllten Raum, orientierst dich an Stuhllehnen und hier und da an den Schultern von Leuten. Du bist wacklig auf den Beinen und hast einen gewaltigen Druck auf der Blase.
    Die Tür mit der Aufschrift TOILETTE ist abgeschlossen. Also wartest du davor und trittst von einem Fuß auf den anderen wie ein Kind. Du hörst die Klospülung rauschen, dann Wasser im Waschbecken plätschern und schließlich das Klicken des Schlosses, als die Tür endlich aufgeht. Eine Frau kommt heraus.
    Du stolperst an ihr vorbei und schaffst es im letzten Moment aufs Klo, um dich zu erleichtern. Trotzdem hast du einen nassen Fleck am Hosenbein. Du nimmst ein Papierhandtuch, wäschst es aus, machst es nur noch schlimmer. Zumindest ist es nicht so auffällig wie Blut. Du erinnerst dich an all die Male, als du dich in öffentlichen Toiletten eingeschlossen und deine Hose ausgewaschen hast, weil mal wieder ein Tampon übergelaufen war. Für eine Ärztin hattest du bemerkenswert wenig Ahnung von deinem eigenen Körper. Du hattest für alle Fälle überall Tampons deponiert: in der Handtasche, im Handschuhfach, in der Schreibtischschublade, und trotzdem, wenn du ganz dringend einen brauchtest, war keiner da. Dein Körper hat dich immer wieder hintergangen.
    Es wurde schlimmer, je älter du wurdest. Mit Ende Vierzig, Anfang Fünfzig hast du an manchen Tagen nur widerstrebend Operationstermine vereinbart, weil du jederzeit mit regelrechten Sturzblutungen rechnen musstest. Dein Körper hat dir schlimmere Niederlagen beigebracht als je zuvor. Du hast zwei Tampons und zusätzlich eine Binde benutzt. Du bist mit Erwachsenenwindeln in den OP -Saal gewatschelt. Aber wenn die Blutung einsetzte, war sie durch nichts aufzuhalten. Du hast gelernt, mit der Demütigung zu leben. Blut im OP . Du hattest Ersatzkleidung in der Klinik, im Auto. Zwei Jahre lang. Du hattest immer angenommen, du würdest den Verlust der fruchtbaren Jahre betrauern, aber das Trauma der Perimenopause hat dich eines Besseren belehrt.
    Du betrachtest dich im Spiegel, während du dir die Hände wäschst. Was du siehst, erschreckt dich. Das extrem kurze, krause, mittlerweile völlig ergraute Haar. Rote Flecken im Gesicht, Leberflecken auf der Stirn. Die schlaffe Haut am Kinn. Zu viel Sonne.
    Du hast die Warnungen der Dermatologen immer in den Wind geschlagen, hattest das Gefühl, die waren was für alte Frauen. Jetzt bist du eine alte Frau. Über dein Leben sollte man nur noch in der Vergangenheitsform reden. Plötzlich bist du müde. Zeit, nach Hause zu gehen. Du verlässt die Toilette und bleibst orientierungslos stehen.
    Wo bist du. In einem überfüllten Restaurant. Der Geruch nach schweren Knoblauchsoßen ist überwältigend. Der Lärm verursacht dir Kopfschmerzen. Leiber schieben sich gegen dich,

Weitere Kostenlose Bücher