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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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selbst dort hingelegt. Der Boden unter deinen nackten Füßen fühlt sich kalt an. Du trittst auf etwas, das knirscht. Eine Schnecke. Dann noch eine. Die hast du seit eh und je verabscheut. Marodeure. Diebe. Sie machen alles Schöne kaputt. Aber Fiona war immer von ihnen begeistert. Sie hat die Schneckenhäuser mit Amandas Nagellack bunt angemalt und die Schnecken dann wieder im Garten ausgesetzt. Lebende Juwelen zwischen deinen Petunien und Fleißigen Lieschen.
    Du trittst auf einen spitzen Stein und schreist auf.
    Schsch!, sagt einer der Männer.
    Was ist das?, fragt der andere. Kurz aufeinanderfolgende Geräusche vom Ende der Straße. Flackerndes rotes und blaues Licht.
    Scheiße, sagt der kleine Mann und rennt los, der andere rennt hinterher. Du gehst in die andere Richtung, in die Gasse, die hinter dem Garten entlangführt. Drei Häuser weiter, eins, zwei, drei. Durch das Gartentor in den Garten. Zu dem großen, weißen Stein unter dem Regenrohr. Der Schlüssel liegt darunter, genau, wo er hingehört.
    Peter hat Amanda immer damit aufgezogen. Überall Schlüssel!, sagte er. Verteilst deine Schlüssel in der ganzen Nachbarschaft! Ruhst nicht, bis jede Frau und jedes Kind einen hat! Aber Amanda zuckte nur die Achseln. Besser, als bei Minusgraden nicht ins Haus zu kommen, sagte sie. Besser als mit einem gebrochenen Bein oder nach einem Schlaganfall hilflos dazuliegen, und keiner kann reinkommen und nach dir sehen.
    Du schließt die Tür auf. Das Haus ist still, abwartend. Es riecht schal, nach Schimmel, und ein bisschen nach Gas. Du drückst auf den Lichtschalter. Nichts passiert. Und doch ist es zweifellos Amandas Küche. Keine Blumen, kein Obst, aber ihre Fotos, ihre Möbel. Sie ist nicht da. Irgendwie weißt du das.
    Du gehst den Flur hinunter. Du kennst dieses Haus wie dein eigenes. Seit du mit Mark schwanger warst. Amanda war die Erste aus der Nachbarschaft, die bei dir geklingelt hat. Aber sie brachte dir keine Kekse und auch keinen Eintopf, sondern einen Kaktus in einem Blumentopf. Hässlich, mit einer kleinen, sternförmigen gelben Blüte an einem seiner dünnen Ärmchen.
    Ich habe schon viel von Ihnen gehört, aber Sie kennen mich nicht, sagte sie. Sie haben einen meiner Schüler behandelt, nachdem er sich bei einem Unfall mit einem Feuerwerkskörper verletzt hatte. Sie haben drei seiner Finger wieder angenäht, und zwei davon kann er immer noch gebrauchen. Es heißt, Sie seien ein Genie. Ich bewundere Genies.
    Ich bin kein Genie, hast du geantwortet. Ich bin nur gut in meinem Beruf.
    Du hast den Kaktus angenommen. Und in den Müll geworfen, als Amanda wieder weg war. Du kannst Pflanzen nicht ausstehen, schon gar keine Kakteen. Du hättest dich viel mehr über Kekse gefreut. Aber als du Amanda ein paar Tage später auf der Straße getroffen hast, bist du stehen geblieben, um sie zu begrüßen.
    Die Erinnerung daran ist so frisch, als wäre es gestern gewesen.
    Wann ist es denn so weit?, wollte sie wissen.
    Am 15. Mai. Nur noch neun Wochen, hast du gesagt.
    Bestimmt können Sie es kaum noch erwarten. Bestimmt sind Sie schon ganz aufgeregt.
    Nein. Aber mein Mann ist aufgeregt. Er ist derjenige, der sich Kinder wünscht.
    Du hast abgewartet, wie die Frau auf deine Antwort reagieren würde. Sie war groß, hielt sich sehr aufrecht. Ihr Rücken war gerade, ihr blondes Haar wie ein goldener Helm, der fast ihre Schultern berührte– du hast sofort gesehen, dass es ihre natürliche Haarfarbe war.An ihren Schläfen hatte sie ein paar einzelne weiße– nicht graue– Haare. Ihre maßgeschneiderte Kleidung war sorgfältig gebügelt. Du kamst dir komisch vor in deiner ausgebeulten Baumwollhose, dem übergroßen T-Shirt, das deinen runden Bauch verbarg, deinen ausgelatschten Tretern.
    Amanda lachte. Wie alt sind Sie? Fünfunddreißig?
    Ja, fünfunddreißig. Es wurde höchste Zeit.
    Sie lächelte ein bisschen wehmütig. Wir versuchen es immer noch.
    Du hast dich nicht einmal bemüht, deine Verwunderung zu verbergen.
    Ich gebe nicht so leicht auf. Sie tätschelte dir den Bauch– etwas, das sich viel zu viele Leute herausnahmen. Aber in ihrem Fall hat es dich nicht gestört. Bei ihr wirkte es nicht aufdringlich. In ihrer Geste lag etwas Sehnsüchtiges und auch so etwas wie Ehrfurcht. Deswegen hast du sanfter darauf reagiert, als du es normalerweise getan

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