Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen
Emotionen oder die unserer Mitmenschen nicht immer verstehen. Wir können gar nicht anders, als darauf zu reagieren – auf das, was um uns herum passiert, was uns widerfährt, was wir anrichten oder andere uns antun. Dabei bleibt es selten bei der intellektuellen Bewertung. Auch unser Körper spiegelt, was in uns vorgeht – bisweilen sogar heftig: Wenn uns etwas enorm berührt, dann keuchen, röcheln, stöhnen, schwitzen, starren, verkrampfen, weinen oder zittern
wir. Ganz so extrem wird Ihre Reaktion auf die nächsten Seiten
hoffentlich nicht ausfallen. Das wäre uns wirklich unangenehm.
DER KATHARSIS-EFFEKT
Warum wir weinen
»Nabelschnur durchgeschnitten,
Fotos gemacht,
Familie angerufen,
geheult.«
Lukas Podolski, Fußballspieler
Die Gründe, warum Menschen weinen, sind so vielschichtig wie eine Zwiebel. Die einen trauern über den Verlust eines Angehörigen oder nahen Freundes, andere schluchzen wegen einer zerbrochenen Beziehung, wieder andere heulen Rotz und Wasser, weil sie einen traurigen Film angeschaut haben, oder weil sie gerade eine Zwiebel um einige Schichten erleichtern. Und natürlich kann uns auch Musik zu Tränen rühren. Überhaupt hat das Tränenvergießen in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Interpreten zu manchem Evergreen, oder besser gesagt
Everblues
inspiriert (siehe Liste).
DIE ZEHN BEKANNTESTEN SONGS ZUM HEULEN
Don’t cry for me Argentina (Julie Covington)
No woman, no cry (Bob Marley)
Cry me a river (Justin Timberlake)
Don’t cry (Guns N’ Roses)
Tears in heaven (Eric Clapton)
Cry no more (Chris Brown)
Weinst du (Echt)
Tränen lügen nicht (Michael Holm)
Weine nicht (Die Flippers)
Es geht eine Träne auf Reisen (Salvatore Adamo)
»Eine Träne ist die Sprache der Seele und die Stimme des Gefühls«, säuselte der italienische Dichter Filippo Pananti im 18. Jahrhundert. Fast genauso lange versuchen Wissenschaftler herauszufinden, warum Menschen weinen. Eine Theorie findet derzeit den größten Konsens: Ihr zufolge weinen wir, um unsere Seele sprichwörtlich von Ballast zu befreien. Oder von diversen Gefühlswallungen. Insbesondere Frauen konnten dem niederländischen Psychologen Ad Vingerhoets von der Universität Brabant gleich vier oder mehr Emotionen nennen, die sie während eines Weinkrampfs empfanden. Als wiederum dessen Kollegen von der niederländischen Universität Tilburg vor rund vier Jahren 3000 Tränenflüsse untersuchten, zeigte sich bei nahezu allen Betroffenen hernach eine deutliche Besserung des Gemütszustands, lediglich jeder Zehnte fühlte sich hinterher schlechter als davor.
Tränen als Erleichterung der Seele – eine ähnliche Idee hatte schon der griechische Urarzt Hippokrates. Er glaubte, dass vor allem vier Körperflüssigkeiten – Blut, Schleim sowie schwarze und gelbe Galle – über die Gesundheit des Menschen entscheiden. Wenn diese ins Ungleichgewicht geraten, so der antike Mediziner, werden wir krank und benötigen eine Reinigung – oder wie Hippokrates es nannte: eine Katharsis. Biologen fanden inzwischen heraus, dass Menschen beim Weinen tatsächlich zahlreiche Stoffe absondern. Der amerikanische Biochemiker William Frey ließ dazu seine Probanden wahlweise Zwiebelduft einatmen oder sentimentale Filme ansehen. Danach untersuchte er ihre Tränen: Allesamt enthielten sie diverse Hormone, Kalium und Mangan – die der T V-Schluchzer zusätzlich noch fast ein Viertel mehr Eiweiß. Frey kam zu der Überzeugung, dass Heulen praktisch en passant »Abfälle und schädliche Substanzen« ausschwemmt. In der Wissenschaft wird dies inzwischen jedoch heftig bezweifelt. Wer sich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt oder beim Laufen einen Schuhabsatz abbricht, muss deswegen nicht zwangsläufig Bioschadstoffe loswerden.
Dennoch sprechen zumindest Psychologen heute noch vom Katharsis-Effekt, wenn sie raten, sich bei Kummer, Ärger, Sorgen oder Frust so richtig auszuheulen. Denn das tue uns psychisch wie physisch gut.
Nur stimmt auch das leider so nicht ganz. Richtig ist zwar, dass wir beim Weinen starken Gefühlen Ausdruck verleihen und sie irgendwie kanalisieren. Der Katharsis-Effekt nimmt aber ab, sobald mehrere Personen unserem Gefühlsausbruch beiwohnen. Davon jedenfalls ist Jonathan Rottenberg von der Universität von South Florida überzeugt. In einer Studie im Dezember 2009 befragte er gemeinsam mit zwei Kollegen über 5000 Menschen in 35 Ländern nach ihren Erinnerungen an den letzten Weinkrampf. Etwa 30
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