Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen
Eigenschaften vererbt werden. Dazu experimentierte er mit Geburtshelferkröten. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Artgenossen besitzen die Männchen keine sogenannten Brunftschwielen, um sich während des Paarungsaktes im Wasser am Weibchen festzukleben – nicht zuletzt, weil sich diese Art üblicherweise gar nicht im Wasser paart. Kammerer wiederum züchtete nun mit einigen Tricks Geburtshelferkröten, die sich irgendwann im Wasser fortpflanzten, und nach genau vier Generationen entwickelten die Männchen tatsächlich Brunftschwielen an den Vorderbeinen.
Die Ergebnisse waren eine Sensation. Stolz fotografierte Kammerer die Brunftschwielen und präsentierte sie auf der ganzen Welt. Dann erhielt er in Wien Besuch von dem U S-Reptilien kundler Gladwyn Noble. Der begutachtete das Krötenbein sowie entsprechende Fotos. Im August 1926 veröffentlichte er einen vernichtenden Aufsatz im angesehenen Wissenschaftsmagazin ›Nature‹ mit dem Fazit: Kammerer habe Tusche in das Krötenbein gespritzt, um Brunftschwielen vorzugaukeln. Die Öffentlichkeit glaubte Nobles vermeintlicher Enthüllung, Kammerers Karriere war trotz heftiger Unschuldsbeteuerungen ruiniert. Wenige Wochen später jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Das wahre Drama aber ist: Wissenschaftler sind inzwischen überzeugt, dass Kammerer nicht betrogen hat. Zwar habe er Tusche benutzt, aber vermutlich nur, um die Farbkontraste auf den Fotos zu verstärken.
WARNOCKS-DILEMMA
Warum Ignoranz gar nicht schlimm ist
Für einen Künstler gibt nur eine Sache, die schlimmer ist als eine negative Kritik: gar keine Rückmeldung. Gewiss, weder Schriftsteller noch Maler oder Musiker mögen es, wenn man ihr Werk rhetorisch in der Luft zerreißt. Das schmerzt immer, denn hinter einem kreativen Akt stecken meist viele Emotionen, Leidenschaften,manchmal gar Entbehrungen und Mühen. Und dann kommt so einer daher, wirft einen oberflächlichen Blick darauf und sagt: »Totaler Murks.« Was weiß der denn schon! Und wie ungerecht ist das bitte schön? Was man in einem Jahr aufgebaut hat, reißt dieser Besserwisser in einem Absatz nieder. Troglodyt, du!
Und doch gibt es für die sensible Künstlerseele keine schlimmere Demütigung als Ignoranz. Warum keine Reaktion schlimmer ist als eine Reaktion – und sei sie noch so negativ? Ganz einfach: Kunst zielt letztlich immer auf Kommunikation. Sie will einen Dialog provozieren, mit dem Leser, Betrachter, Zuschauer oder Zuhörer. Bleibt das Feedback vollends aus, ließe das eigentlich nur einen Schluss zu: Das Werk erzeugte nicht mehr als völliges Desinteresse. Ein Totalausfall also.
Aber stimmt das? Nein! Und das ist die gute Nachricht für alle Künstler. Vielmehr handelt es sich dabei um eine typische Fehleinschätzung, auch bekannt als Warnocks-Dilemma. Der Name geht zurück auf eine Online-Diskussion vor einigen Jahren. Im August 2000 diskutierten Mitglieder eines Internetforums für die Programmiersprache Perl, wie sie die Rückmeldung zu Beiträgen steigern könnten. Auch hier meinte ein Nutzer, ausbleibende Reaktionen auf Forenbeiträge seien schlicht auf Desinteresse zurückzuführen, andere widersprachen. Dann schaltete sich ein gewisser Bryan Warnock in die Diskussion ein und brachte ein paar denkwürdige Thesen in die virtuelle Runde ein. Das Problem einer ausbleibenden Antwort sei, so Warnock, dass sie fünf Interpretationen zulasse:
1. Der Beitrag ist korrekt, informativ und gut geschrieben – es gibt daher einfach nichts mehr dazu zu sagen.
2. Der Beitrag ist kompletter Unsinn – und zwar dermaßen, dass niemand seine Zeit mit einer Replik verschwenden will.
3. Der Beitrag wurde übersehen – warum auch immer.
4. Der Beitrag wurde nicht verstanden, aber niemand bittet um eine Klarstellung. Warum? Unklar.
5. Der Beitrag stößt auf totales Desinteresse – Gründe unbekannt.
Das Dilemma ist also, dass man nicht weiß, ob eine Reaktion aus positiven oder negativen Ursachen ausbleibt. Und natürlich gibt es noch weitere Gründe, warum Mitglieder eines Forums einen Beitrag ignorieren – womöglich haben sie gerade keine Zeit oder fühlen sich nicht kompetent oder haben Angst vor der Reaktion der anderen. Denn wer öffentlich kritisiert, muss damit rechnen, selbst kritisiert zu werden. So oder so – der Einwand überzeugte die Netzgemeinde der Perl-Programmierer. Seinen Ritterschlag erhielt das Phänomen jedoch erst im Oktober 2001. Da berichtete das U S-Magazin
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