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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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gleiche Ehre erweise wie deutschen, zum Beispiel französischen Fliegern, die abgeschossen wurden. Die Franzosen dürfe man nicht einmal verscharren, wenn sie tot seien, aber was die Judt anlangt, so dürften sie nicht einmal die Ehre haben, in deutscher Uniform zu kämpfen, man müßte ihnen gelbe Aufschläge geben usw.
    Um das alles hatte ich mich als objektiver Arzt nie zu kümmern. Er war abstoßend, aber es war sein Recht, abstoßend zu sein. Für mich hieß es nicht, sich für oder gegen ihn zu entscheiden, ich hatte ihn nicht zu richten.
    Ich hatte die Wahl, entweder den Fanatiker abzuschütteln oder aber ihn mit allen meinen Mitteln von seinen Leiden zu befreien und von der Zeit zu erwarten, daß sich die große Energie dieses Menschen anderen, humaneren, besseren Zielen zuwende. Ich habe nie begriffen, daß ein Mensch so von sich hypnotisiert sein kann, daß er nie lernt, nie zweifelt, nie zulernt. Aber H. war einer von diesen.
    Aber er verstand, mit Menschen umzugehen, er paßte sich an, er sah uns, obwohl er uns nicht sah. Er wußte den Großen, zum Beispiel mir, dem Arzt im Hauptmannsrang, der an der Front als Kombattant gewesen und das Eiserne Erster erworben hatte, entgegenzukommen. Er brachte es, ich weiß nicht wie, dazu, daß ich mich um ihn besonders kümmerte.
    Ich begab mich eines Nachts, als auch ich von Schlaflosigkeit geplagt war (ich sorgte mich um meine Mutter, die schwer unter den Entbehrungen litt), in mein kahles Arbeitszimmer und rief H., der im Korridor umhertappte wie ein Schlafwandler, zu mir. Ich setzte ihn ins Licht, hielt mich im Dunkel, so weit entfernt von der Lampe, daß ich eben meine stenographischen Aufzeichnungen machen konnte. Ich ließ ihn sprechen, und er sprach stundenlang ohne Unterbrechung fort. Ich erfuhr, daß er Oberösterreicher war. Aus Liebe zu Deutschland hatte er den Dienst im österreichischen Heer verschmäht – »ich wollte nicht für Habsburg fechten« – und war in den Dienst der Deutschen getreten. Er hatte den Krieg mit Jubel begrüßt als seine Rettung, als Rettung der Welt. Sein Vater war ein Bauer, ein Kleinhäusler, dann hieß es, er sei ein k.u.k. Zollamtsoffizial gewesen, ein kalter, förmlicher, strenger Mensch. Der Vater war mehrmals verheiratet gewesen, hatte Kinder aus drei Ehen (fast wie der meine). Die Mutter hatte H. bald verloren (ich dachte an die meine, von der nicht die besten Nachrichten kamen).
    Er sei ein armer Kunststudent in Wien gewesen, habe kleine Bilder in Öl in Postkartenformat gemalt und sie im Bratofen geröstet, bis sie schön braun wurden und Akademieton erhielten. Aber dann habe er die Aufnahme in die Akademie nicht erreichen können, man habe ihn für einen großen Baumeister gehalten, der zu schade sei für die Malereiklasse. Er habe, in Not, als Anstreicher an einem Neubau gearbeitet, sei von den organisierten, unter Judenherrschaft stehenden Arbeitern verhöhnt und weggejagt worden ohne Grund, einfach weil die Proleten den besseren, gebildeten Menschen, einen Nichtraucher, Vegetarier, Abstinenten haßten. Er habe sich in den Straßen umhergetrieben, oft habe ihn ein gutherziger ›Plattenbruder‹, ein heimloser Vagant, wie es deren viele gab, die sogar in verlassenen Kanälen des Wienflusses unter der Erde nächtigten, mit ein paar Kreuzern oder einem Viertellaib Brot unterstützt. Er hatte eine sehr harte Jugend gehabt, viel härter als ich.
    Er habe oft im Männerheim im 20. Wiener Bezirk genächtigt, habe nachts oft von dort weglaufen wollen, weil ihm der Geruch der Vagabunden unerträglich gewesen sei, aber seine Kleider seien beim Entlausen gewesen, er hätte sie erst am nächsten Morgen, ganz ›verwurstelt‹ und häßlich geworden durch den heißen Desinfektionsdampf, zurückerhalten.
    Er habe sich immer für Politik interessiert, er stamme von der Grenze und habe Deutschland aus der Nähe gesehen, sich immer gesehnt, ein Deutscher zu sein, weil das neue Deutschland von 70/71 groß und hart, das alte Österreich von 1866 aber weich und morsch sei. Der Judt habe es vergiftet, niemand anders, wie er auch Galizien vergiftet und ›ratzekahl‹ gefressen habe. Er kam immer wieder auf die Juden zurück. Sie seien die schwarze Rasse im eigentlichen Sinn, die Todfeinde der Deutschen als der weißen Rasse. Christusrasse gegen Judenrasse. Christus sei Arier gewesen, Judas das Urbild des Judt. Der eine müsse leben, der andere zugrunde gehen. Ich wollte ihn ablenken. Um ihn auf eine andere Sache zu führen, die in der

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