Ich. Die Autobiographie
dem er »Ludwig II.« zu Ende schneiden ließ. Mehrere Monate blieb er am Corner See. In Rom zog er in eine komfortable Mietwohnung in der Via Fleming, ganz in der Nähe seiner Schwester. Die Via Salaria war zu kompliziert, hatte zu viele Ebenen für einen Mann, der die meiste Zeit im Rollstuhl verbringen musste. Ohne Pause arbeitete Luchino weiter.
Dass seine zahlreichen Inszenierungen für Theater, Oper und Film eine so starke Glaubwürdigkeit der Schauspieler in den Szenen boten – genauso in den historischen Kostümen –, lag daran, dass Luchino in einer aristokratischen Welt aufgewachsen war, in der Mode und theatralisches Auftreten eine Rolle spielten. In dem Mailänder Palazzo der Viscontis befand sich sogar ein Haustheater mit eigenen 'Vorstellungen für die Familie und den Freundes- und Gesellschaftskreis. Auch aus seiner Herkunft rührten seine Visionen.
Dabei interessierten ihn die deutsche Geschichte und Kultur besonders. Mit »Die Verdammten«, »Ludwig II.« und »Tod in Venedig« schuf Luchino eine Trilogie über das Deutschland der Vergangenheit. Schade, dass seine Verfilmung des »Zauberbergs« von Thomas Mann nie zustande kam.
Luchino wollte zu gerne einen Salon der Intelligenz in Rom gründen. Als große nationale und internationale Institution. Darüber sprach er mit seinen vielen Freunden und allen möglichen anderen Leuten bei den Abendessen schon in der Via Salaria 366. Mit Schriftsteller Alberto Moravia, Susan Sontag, Françoise Sagan, Marguerite Dumas, Roberto Rossellini, Leonard Bernstein, Giancarlo Menotti, dem Dirigenten und Direktor vom Spoleto-Festival, dem italienischen Komiker Ugo Tognazzi (»Ein Käfig voller Narren«), Giovanni Bulgari, Carlo Ponti, Vittorio de Sica, Michelangelo Antonioni, Federico Fellini, François Truffaut, Jean-Luc Godard, Salvador Dali, Yves Montand und Simone Signoret, Orson Welles, Roger Peyrefitte, den Operndirektoren aus Wien, London, Paris, New York …
Wie sein Vater, Giuseppe Visconti di Modrone, war Luchino stets äußerst elegant und attraktiv, allerdings auf eine eher indirekte, spontane Art. Zum grauen Anzug trug er eine Knallfarbe: gelbe, rote oder hellblaue Socken. Dieses Kleidungsfaible muss ihn wohl, als er 1964 über seine Inszenierung von »La Traviata« mit Gabriella Freni im Londoner Covent Garden grübelte, irgendwie an »Beardsley« erinnert haben. Das war eine Jugendstilrichtung im puren Schwarzweiß. Er beschloss: das Bühnenbild und die Kostüme in Schwarzweiß, nur das Taschentuch in Blutrot.
Die Arbeit war sein Leben und sein Leben der Film. Er begann sofort nach der Entlassung aus der Klinik mit dem Drehbuch für »Gewalt und Leidenschaft«. Ich unterstützte ihn, so gut ich konnte. Damals verfügte ich über eine unendliche Kraft und Energie. Einige Wochen spielte ich zwei Rollen in zwei Filmen gleichzeitig. Eine in »La Colonna Infame« unter der Regie von Nelo Risi, eine Verfilmung von Manzoni über die Pest in Mailand. Mit dabei Lucia Bosé und Francisco Rabal, ein hervorragender spanischer Schauspieler. Parallel dazu übernahm ich einen Part in »Gewalt und Leidenschaft«. Tag und Nacht schuftete ich. In den kurzen Pausen kümmerte ich mich um Luchino.
Manzoni ist ein italienischer Klassiker, also musste ich perfekt italienisch sprechen. Das übte ich nebenbei mit einem italienischen Coach. Auf dem anderen Set bei »Gewalt und Leidenschaft« musste ich perfekt englisch sprechen, wozu ich noch einen englischen Coach hatte. Das verlangte höchste Konzentration. Meine Sprachbegabung ist sicher ein Vorteil, aber die Perfektion in mehreren Sprachen gleichzeitig zu halten, zählt schon zu einem Balanceakt.
Luchino war in vielen Bereichen der Filmkunst ein Pionier. Er erfand den Neorealismus zusammen mit Roberto Rossellini: die filmische Umsetzung der sozialen Probleme Italiens.
Bahnbrechend auch in der direkten Tonaufnahme, die er als erster im Film überhaupt einführte. Der Ton wurde während der Szene mit aufgezeichnet. Ob Silvana Mangano, Burt Lancaster oder ich, jeder von uns musste perfekt englisch sprechen. Sowohl »Die Verdammten« als auch »Ludwig II.« drehte ich so. Bei »Gewalt und Leidenschaft« arbeitete Luchino intensiver als je zuvor. Da er nicht mehr gehen konnte, schlug er – wenn er mit einer Aufzeichnung unzufrieden war oder ihn sonst etwas ärgerte – mit einem Stock auf den Boden. Der antike Gehstock ist heute als Erinnerung in meiner Wohnung in der Via Nemea. Da Luchino nicht mehr schreien konnte,
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