Ich durchschau dich!: Menschen lesen - Die besten Tricks des Ex-Agenten (German Edition)
mir gezeigt, dass er mal muss. Aber ich glaube, die wollten nur weg von den Bullen. Bin ich auf Parkplatz gefahren. Hat mich schon wieder Zeit gekostet. In Detmold an der Ampel stand noch ein Bullenwagen neben uns. Da haben sie erst recht geschwitzt. Und gestunken, Leo. Ich habe Angst gerochen.« Er blähte die Nasenflügel. Dann regte er sich auf: »Das habe ich nicht gewusst!«
Wie echt seine Entrüstung war, konnte ich nicht beurteilen. Aber etwas anderes: Sicher erzählte er mir die Geschichte erst jetzt, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Er konnte nie sicher sein, was ich schon wusste, und was nicht. Aber er wusste, wenn er mit einer Straftat aufflog, und sei es nur als Fahrer zweier Flüchtiger,
illegal Eingereister oder Drogenkuriere oder sonst was, dann würde er mit den Konsequenzen leben müssen. Ich würde ihm keinesfalls helfen. Sonst wäre er als V-Mann enttarnt. Außerdem könnte er durch solche eigenmächtigen und riskanten Aktionen unsere Operationen gefährden, wenigstens unnötig erschweren.
»Hast du Bülent darauf angesprochen?«, erkundigte ich mich.
Empört holte Tichow Luft. »Ich zu Bülent. Hey du Arschloch! Was waren das für welche? Wenn ich Stress mit den Bullen krieg wegen dir! Das vergisst du nicht. Hat Bülent gesagt: ›Hast du gutes Geld verdient.‹ Habe ich gesagt: …«, er ließ einen kernigen Fluch in russischer Sprache folgen. Auf die Übersetzung verzichte ich hier.
»Musst du lernen meine Sprache, Leo!«, verlangte Tichow, schlagartig wieder gut gelaunt. Der Fluch schien Wunder gewirkt zu haben. Ich würde mich hüten, meinem V-Mann anzuvertrauen, dass ich mehr verstand, als ihm lieb war. Bei den Flüchen gab es allerdings noch Lücken. Tichow klopfte mir auf die Schulter. »Egal. Habe gutes Geld verdient. Sprit extra. Hat Bülent mir dann noch gegeben.«
»Super Deal«, beglückwünschte ich ihn.
»Да«, bestätigte er mit dem russischen Ja, »Da« gesprochen.
Lupe oder Weitwinkel?
Tichow erzählte mir nicht nur detailliert vom Geruch der Angst und von dem Muster auf der Strumpfhose der Kellnerin. Er war ein Lupentyp. Seine Aufmerksamkeit richtete sich häufig auf Details – was ihn zum V-Mann prädestinierte. In anderen Situationen konnte er sich auch einen Überblick verschaffen. Aber diese Gelegenheiten waren seltener. Somit verfügte er über zwei wichtige Eigenschaften: Detail- und Überblicksorientierung. Keines von beiden ist besser. Es gibt Momente, in denen ist der Überblick wichtiger als ein Detail, und es kann genau umgekehrt sein. Jeder von uns beurteilt dies von Fall zu Fall. Was ist jetzt wichtiger? Und das ist dann seine Realität. Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch. Für uns Agenten ist es wichtig zu wissen, dass gewisse Dominanzen bestehen, dass Menschen sich je nach Typ und Kontext eher so oder eher anders verhalten können. Wenn wir die jeweilige Präferenz erkennen, können wir unser Verhalten anpassen, um eine Mission besser zum Erfolg zu führen. Bekommt unser Gegenüber das, was es gerade erwartet, fühlt es sich verstanden und aufgehoben. Die inneren Türen bleiben offen für uns. Der andere ist bereit, auf unsere Vorschläge einzugehen und unsere Angebote anzunehmen.
Die Modelle zur Menschenkenntnis, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, sind eine Auswahl jener Muster, von denen ich in meinem Agentenalltag am meisten profitieren konnte. Agenten und Agentinnen sind Meister der Informationsbeschaffung –
nicht nur bei geheimen Ermittlungen, sondern auch in den Methoden und Techniken zur Informationsbewertung – ihrem psychologischen Handwerkszeug. Dabei geht es nicht darum, das Rad neu zu erfinden, es geht auch nicht darum, sich in jedes kleinste Detail der unzähligen Erklärungsmodelle für menschliches Verhalten zu verbeißen. Wir konzentrieren uns auf pragmatische und für den Alltag taugliche Ansätze. Hier ist uns jedes Mittel recht. Egal ob altbewährt oder brandneu. Hauptsache, es versetzt uns in die Lage, Menschen besser zu durchschauen.
Wenn man die Facetten menschlichen Verhaltens nicht zu deuten weiß, kann es passieren, dass man öfter falsch liegt, als richtig. Oder, dass man sich ständig unverstanden fühlt, vielleicht sogar respektlos behandelt oder gar persönlich angegriffen. Man fühlt sich schlecht und ärgert sich. Aber warum? Weil der andere in einem anderen Takt tickt. Steht ihm das nicht zu? Eigentlich schon, schließlich nehmen wir das auch für uns selbst gern in Anspruch. Also
Weitere Kostenlose Bücher