Ich finde dich
viel unterwegs. Todd hat als Arzt für eine Wohltätigkeitsorganisation gearbeitet. Den Namen habe ich vergessen. Irgendwas mit Anfang oder so.«
»Fresh Start.«
»Ja, genau. Für die haben sie viele arme Länder bereist. Todd hat viele Bedürftige operiert, Natalie sich der Kunst gewidmet und Unterricht gegeben. Sie waren glücklich. Das dachte ich jedenfalls.«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Bei der Hochzeit.«
»Moment mal. Sie haben Ihre Schwester sechs Jahre lang nicht gesehen?«
»Ja. Nach der Hochzeit hat Natalie mir erzählt, dass ihr Leben mit Todd eine wunderbare lange Reise werden würde. Sie hatte mich vorgewarnt, dass viel Zeit vergehen könnte, bis ich sie wiedersehe.«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Sie sind nicht mal rübergeflogen, um sie zu besuchen? Und Natalie war nicht wieder hier?«
»Nein. Wie gesagt, sie hatte mich vorgewarnt. Sie schickt mir gelegentlich eine Postkarte aus Dänemark. Das ist alles.«
»Wie ist es mit E-Mails oder Telefongesprächen?«
»Will sie nicht. Sie meinte, die moderne Technologie würde ihre Gedanken vernebeln und so ihre Arbeit beeinträchtigen.«
Ich verzog das Gesicht. »Das hat sie gesagt?«
»Ja.«
»Und Sie haben es ihr abgenommen? Was ist bei einem Notfall?«
Julie zuckte die Achseln. »Es ist das Leben, das sie führen will.«
»Fanden Sie das nicht ein bisschen seltsam?«
»Doch. Und ich habe genau wie Sie argumentiert. Aber was sollte ich machen? Sie hat es ganz deutlich gesagt – sie wollte es so. Das war der Beginn einer neuen Reise für sie. Wer war ich, dass ich mich ihnen hätte in den Weg stellen dürfen?«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Und wann haben Sie die letzte Postkarte von ihr bekommen?«
»Das ist schon eine Weile her. Vor ein paar Monaten, vielleicht einem halben Jahr.«
Ich lehnte mich zurück. »Im Prinzip wissen Sie also gar nicht, wo sie ist, oder?«
»Ich würde sagen, sie ist in Dänemark, aber genau weiß ich es nicht, nein. Ich verstehe auch nicht, wie ihr Mann in South Carolina mit einer anderen Frau und Kindern leben konnte. Ich meine, das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn. Also weiß ich nicht, wo sie ist.«
Ein lautes Klopfen an der Tür erschreckte uns. Julie griff tatsächlich nach meiner Hand, als suchte sie Trost. Es klopfte noch einmal, und eine Stimme rief:
»Jacob Fisher? Hier spricht die Polizei. Das Haus ist umstellt. Kommen Sie mit hoch erhobenen Händen heraus.«
DREIUNDZWANZIG
I ch weigerte mich, ein Wort zu sagen, bevor mein Anwalt – Benedict – eingetroffen war.
Das dauerte eine Weile. Der leitende Beamte hatte sich als Jim Mulholland vom New York Police Department vorgestellt. Keine Ahnung, wieso er für diesen Fall zuständig war: Lanford College liegt in Massachusetts. Und auch als ich Otto an der Route 91 getötet hatte, waren wir noch in Massachusetts. Dann war ich nach Vermont gefahren, und festgenommen hatten sie mich in New Jersey. Abgesehen davon, dass ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Manhattan gefahren war, hatte ich keine Ahnung, was das NYPD mit der Angelegenheit zu tun hatte.
Mulholland war ein rundlicher Mann mit einem vollen Schnurrbart, der mich an Magnum erinnerte. Er betonte ständig, dass ich keineswegs festgenommen sei und jederzeit gehen könne, aber Herrgott noch mal, sie wären wirklich extrem dankbar, wenn ich mit ihnen kooperieren würde. Er plauderte höflich, fast ein wenig dümmlich, während er mit mir zu einem Revier in Midtown Manhattan fuhr. Er bot mir ein Erfrischungsgetränk, Kaffee, Sandwiches an oder was immer ich sonst wollte. Da ich plötzlich Hunger hatte, nahm ich an. Ich wollte gerade zulangen, als ich mich daran erinnerte, dass eigentlich nur die Schuldigen in Gewahrsam aßen. Das hatte ich mal irgendwo gelesen. Ein Schuldiger wüsste, was vorging, daher wäre er in der Lage, zu schlafen und zu essen. Die Unschuldigen seien dazu viel zu verwirrt und verängstigt.
Aber schließlich war ich ja schuldig …
Ich genoss jeden Bissen, als ich das Sandwich verspeiste. Gelegentlich versuchten Mulholland oder seine Partnerin Susan Telesco, eine große Blondine in Jeans und Rollkragenpullover, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich lehnte ab und erinnerte sie daran, dass ich von meinem Recht gebraucht gemacht hätte, einen Anwalt hinzuzuziehen. Nach drei Stunden erschien Benedict. Wir vier – Mulholland, Telesco, Benedict und meine Wenigkeit – setzten uns an den Tisch in einem Vernehmungsraum, dessen
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