Ich finde dich
alle Zeit der Welt und würden sich absolut nicht für meine Antwort interessieren. So als wäre es egal, ob ich mir das Foto ansah oder ging. Keine große Sache. Ich rührte mich nicht. Sie rührten sich nicht.
»Professor Fisher?«, sagte Telesco.
Sie zog das Foto mit der Rückseite nach oben aus dem Ordner, als wären wir im Casino beim Blackjack. Und ich sah das Glitzern in ihren Augen. Es wurde zehn Grad kälter im Raum.
»Zeigen Sie es mir«, sagte ich.
Sie drehte das Foto um. Ich erstarrte.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte sie.
Ich antwortete nicht. Ich starrte das Foto an. Ja, natürlich kannte ich diese Frau.
Es war Natalie.
»Professor Fisher?«
»Ich kenne sie.«
Es war ein Schwarz-Weiß-Foto. Es sah aus wie ein Standbild aus einem Überwachungsvideo. Natalie eilte einen Flur entlang.
»Was können Sie mir darüber sagen?«
Benedict legte mir eine Hand auf die Schulter. »Warum stellen Sie meinem Mandanten diese Frage?«
Telesco fixierte mich mit ihrem Blick. »Als wir Sie suchten, waren Sie bei ihrer Schwester zu Besuch. Würden Sie uns verraten, was Sie da wollten?«
»Ich versuche es noch einmal«, sagte Benedict. »Warum stellen Sie meinem Mandanten diese Frage?«
»Die Frau heißt Natalie Avery. Wir haben uns im Vorfeld schon einmal lange mit ihrer Schwester Julie Pottham unterhalten. Sie behauptete, ihre Schwester lebe in Dänemark.«
Dieses Mal stellte ich eine Gegenfrage. »Was wollen Sie von ihr?«
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
»Dann bin ich das auch nicht«, sagte ich.
Telesco sah Mulholland an. Er zuckte die Achseln. »Okay. Dann können Sie jetzt gehen.«
Wir rasten in Gedanken aufeinander zu und warteten darauf, dass der andere zuerst auswich. Ein anderes Bild: Ich hatte keinen Trumpf im Ärmel, also blinzelte ich als Erster. »Wir sind ein paar Mal miteinander ausgegangen«, sagte ich.
Sie warteten, dass ich weitersprach.
Benedict sagte: »Jake …«, aber ich forderte ihn mit einer Geste auf, den Mund zu halten.
»Ich suche sie.«
»Warum?«
Ich sah Benedict an. Er schien ebenso neugierig zu sein wie die Polizisten. »Ich habe sie geliebt«, sagte ich. »Ich bin nie ganz über die Trennung hinweggekommen. Daher hoffte ich … Ich weiß nicht. Offenbar hoffe ich auf die große Versöhnung.«
Telesco notierte etwas. »Warum jetzt?«
Die anonyme E-Mail ging mir wieder durch den Kopf.
Du hast es versprochen.
Ich setzte mich wieder und zog das Foto zu mir herüber. Ich schluckte. Natalie hatte die Schultern hochgezogen. Ihr schönes Gesicht … ich spürte, wie mir die Tränen kamen … sie sah verängstigt aus. Ich streichelte mit dem Finger über ihr Gesicht, als könnte sie die Berührung spüren. Ich hasste es. Ich hasste es, sie so ängstlich zu sehen.
»Wo war das?«, fragte ich.
»Das spielt keine Rolle.«
»Ach Blödsinn. Sie suchen sie, oder? Warum?«
Sie sahen sich an. Telesco nickte: »Sagen wir doch einfach«, fing Mulholland langsam an, »dass Natalie für uns eine Person von besonderem Interesse ist.«
»Steckt sie in Schwierigkeiten?«
»Was uns betrifft nicht.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Was könnte das wohl heißen?« Zum ersten Mal verlor er die Fassung, und ich sah den Zorn hinter der Fassade, die Mulholland bisher aufrechterhalten hatte. »Wir suchen sie …« Er tippte auf das Foto von Otto. »… er und seine Freunde aber auch. Und wer sollte sie Ihrer Meinung nach zuerst finden?«
Ich starrte das Foto an, während mein kurzzeitig tränenverhangener Blick langsam wieder klarer wurde, als mir noch etwas auffiel. Ich versuchte, keine Miene zu verziehen und mir auch sonst nichts anmerken zu lassen. In der linken unteren Ecke waren Zeit und Datum angegeben: 23:47, 24. Mai … vor sechs Jahren.
Das Foto war ein paar Wochen, bevor Natalie und ich uns kennengelernt hatten, entstanden.
»Professor Fisher?«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Aber Sie suchen sie?«
»Ja.«
»Warum jetzt?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich habe sie vermisst.«
»Aber warum ausgerechnet jetzt?«
»Es hätte auch vor einem Jahr passieren können. Oder in einem Jahr. Irgendwann musste es passieren.«
Sie glaubten mir nicht. Schade eigentlich.
»Haben Sie etwas herausbekommen?«
»Nein.«
»Wir könnten Ihnen helfen«, sagte Mulholland.
Ich sagte nichts.
»Wenn Ottos Freunde sie zuerst finden …«
»Warum suchen die sie überhaupt? Und, viel wichtiger, warum suchen Sie sie?«
Sie wechselten das Thema. »Sie waren in
Weitere Kostenlose Bücher