Ich finde dich
sie tot war. Ich wusste nicht, warum, aber wahrscheinlich spekulierten sie darauf, dass jemand wie Natalie nicht einfach abtauchen konnte und überlebte, wenn Leute wie Danny Zuker und Otto Devereaux sie tot sehen wollten.
Es gab noch mehr, was ich nicht wusste. Ich wusste nicht, wie Fresh Start arbeitete, nichts über die Trainingszentren, die als Refugien getarnt wurden, und auch nichts über Jed und Cookie oder die Funktionen der einzelnen Personen in der Organisation. Ich wusste nicht, wie vielen Menschen Fresh Start beim Neustart geholfen hatte oder wann sie damit angefangen hatten, auch wenn sie laut des Berichts über die Geschäftstätigkeiten von Wohltätigkeitsorganisationen vor zwanzig Jahren, als Todd Sanderson in Lanford studierte, gegründet worden waren. Aus den Bausteinen meines Halbwissens hätte ich wahrscheinlich ein großzügiges Haus errichten können. Aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig war jedoch, dass Menschenleben auf dem Spiel standen. Ich hatte verstanden, warum sie den Eid ablegten. Ich hatte verstanden, dass diejenigen, die solche Risiken eingegangen waren und solche Opfer gebracht hatten, Menschen umbringen würden, um sich und ihre Lieben zu schützen.
Außerdem war es ein großer Trost für mich, dass meine Beziehung zu Natalie keine Lüge gewesen war, sondern dass sie, allem Anschein nach, die wahrhaftigste Liebe, die ich je erlebt habe, geopfert hatte, um unser beider Leben zu retten. Doch dieses Wissen und die damit verbundene vollkommene Hilflosigkeit zerriss mir das Herz. Der Schmerz kehrte zurück – anders und stärker als zuvor.
Was konnten wir zur Linderung dieses Schmerzes tun? Genau … Benedict und ich gingen in die Bibliotheksbar. Dieses Mal gaben wir nicht vor, dass die Umarmung einer Fremden uns helfen würde. Wir wussten, dass nur Freunde wie Jack Daniels oder Ketel 1 die Bilder, die dieses Leid hervorriefen, auslöschen oder zumindest verwischen konnten.
Unsere Freundschaft mit Jack und Ketel war schon ziemlich innig geworden, als ich eine ganz einfache Frage in den Raum stellte. »Warum kann ich nicht bei ihr sein?«
Benedict antwortete nicht. Er war plötzlich fasziniert von irgendetwas am Boden seines Drinks. Er hoffte, dass ich die Frage wieder vergaß. Das tat ich nicht.
»Warum kann ich nicht auch untertauchen und mit ihr zusammenleben?«
»Darum«, sagte er.
»Darum?«, wiederholte ich. »Was soll das? Bist du wieder fünf Jahre alt?«
»Wärst du bereit, das zu tun, Jake? Würdest du aufhören zu unterrichten? Dein ganzes Leben hier, mit allem, was dazugehört, an den Nagel hängen?«
»Ja.« Ohne jedes Zögern. »Natürlich würde ich das.«
Wieder starrte Benedict in seinen Drink. »Ja, kann ich mir vorstellen«, sagte er mit Grabesstimme.
»Und?«, fragte ich.
Benedict schloss die Augen. »Sorry, aber das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Aus zwei Gründen«, sagte er. »Erstens machen wir das nicht. Das ist einfach ein Teil der Abmachung und eine Folge der Aufgliederung unserer Organisation. Es ist zu gefährlich.«
»Aber ich könnte es machen«, sagte ich und hörte das Flehen in meinem Lallen. »Seitdem sind sechs Jahre vergangen. Wenn ich jetzt sagen würde, dass ich ins Ausland ziehe oder …«
»Nicht so laut.«
»Sorry.«
»Jake?«
»Ja?«
Er sah mir in die Augen. »Das ist das letzte Mal, dass wir darüber reden. Über dieses ganze Thema. Ich weiß, wie schwer das ist, aber du musst mir versprechen, das alles nie wieder anzusprechen. Hast du das verstanden?«
Ich antwortete nicht direkt. »Du sagtest, es gäbe zwei Gründe dafür, dass ich nicht bei ihr sein kann.«
»Stimmt.«
»Was ist der zweite?«
Er senkte den Blick und trank in einem gewaltigen Schluck sein Glas aus. Er behielt den Schnaps im Mund, während er beim Barkeeper mit einer kurzen Geste den nächsten bestellte. Der Barkeeper runzelte die Stirn. Wir hatten ihn die ganze Zeit in Bewegung gehalten.
»Benedict?«
Er hob das Glas, versuchte, die letzten Tropfen herauszuholen. Dann sagte er: »Keiner weiß, wo Natalie ist.«
Ich verzog das Gesicht. »Ich versteh schon, dass ihr das geheim halten …«
»Es geht hier nicht nur um Geheimhaltung.« Mit einem ungeduldigen Blick verfolgte er den Barkeeper. »Keiner weiß, wo sie ist.«
»Komm schon. Irgendjemand muss es doch wissen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist auch Teil des Konzepts. Es ist unsere Lebensversicherung. Genau deshalb überleben unsere Leute jetzt gerade, das hoffe ich zumindest.
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