Ich finde dich
bei Fresh Start wüsste, wo Natalie sich befand. Das überzeugte mich nicht. Schließlich war die Organisation in Lanford – zumindest – unter anderem auf Geheiß eines gewissen Professor Malcolm Hume aus der Taufe gehoben worden.
Es wurde Zeit, meinen alten Mentor anzurufen.
Zum letzten Mal hatte ich den Mann, in dessen Büro ich jetzt arbeitete, vor zwei Jahren bei einem politikwissenschaftlichen Seminar über den Missbrauch der Verfassung gesehen. Sonnengebräunt und dynamisch war er aus Florida eingeflogen. Seine Zähne waren erschreckend weiß. Wie viele Ruheständler aus Florida wirkte er ausgeruht, zufrieden und ziemlich alt. Wir hatten uns gut verstanden, unser Verhältnis erschien mir allerdings etwas distanziert. Doch Malcolm Hume war schon früher oft reserviert gewesen. Ich liebte den Mann. Für mich war er, neben meinem Vater, das, was einem Vorbild am nächsten kam. Er hatte jedoch ganz deutlich gemacht, dass der Ruhestand für ihn einen Abschluss markierte. Die »akademischen Kletten« hatte er immer verabscheut, diese älteren Professoren und Verwaltungskräfte, die noch lange nach ihrem Verfallsdatum blieben wie alternde Sportler, die das Unvermeidliche nicht wahrhaben wollten. Nachdem er unsere heiligen Hallen einmal verlassen hatte, kehrte Professor Hume nur selten zurück. Er war kein Freund von Nostalgie und wollte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Selbst mit achtzig blickte Malcolm Hume noch in die Zukunft. Für ihn war die Vergangenheit genau das, was das Wort besagte: vergangen.
Obwohl ich unsere frühere Zusammenarbeit für extrem fruchtbar hielt, standen wir also nicht in regelmäßigem Kontakt. Dieser Abschnitt seines Lebens war beendet. Malcolm Hume genoss jetzt unten in Florida das Golfspiel, seinen Krimi-Leseclub und seine Bridge-Gruppe. Vielleicht hatte er auch Fresh Start hinter sich gelassen. Ich wusste nicht, wie er auf meinen Anruf reagieren würde – ob er ihn womöglich beunruhigte oder nicht. Ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht sonderlich.
Ich brauchte Antworten.
Ich wählte die Nummer seines Festnetzanschlusses unten in Vero Beach. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich sein Anrufbeantworter ein. Malcolms donnernde, vom Alter leicht angeraute Stimme bat mich, eine Nachricht zu hinterlassen. Als ich das tun wollte, fiel mir ein, dass ich keine echte Rückrufnummer mehr besaß, weil ich die Handys ja so wenig wie möglich einschalten wollte. Also beschloss ich, es später noch einmal zu versuchen.
Was jetzt?
Dann schwirrte mir wieder der Kopf, und auch dieses Mal ging es um Natalies Vater. Er war der Schlüssel. Wer, fragte ich mich, könnte mir Auskunft darüber geben, was mit ihm passiert war? Die Antwort war offensichtlich: Natalies Mutter.
Ich überlegte, ob ich Julie Pottham anrufen und sie fragen sollte, doch das schien mir auch dieses Mal reine Zeitverschwendung zu sein. Ich fuhr in die örtliche Bibliothek, setzte mich an einen Internet-Terminal und suchte nach Sylvia Avery. Ich fand sie, allerdings war die angegebene Adresse die von Julie Pottham in Ramsey, New Jersey. Ich lehnte mich kurz zurück und überlegte. Dann rief ich die Gelben Seiten auf und suchte nach den Pflegeheimen in Ramsey. Ich fand drei. Ich rief sie nacheinander an und bat, sobald sich jemand meldete, jedes Mal darum, mit Sylvia Avery verbunden zu werden. Alle drei Gesprächspartner teilten mir mit, dass es keinen »Bewohner« (alle verwendeten dieses Wort) dieses Namens gäbe. Ich setzte mich wieder an den Terminal und erweiterte meine Suche auf Bergen County, New Jersey. Ich erhielt zu viele Treffer. Also öffnete ich eine Karte der Gegend und fing an, die Pflegeheime in der Umgebung von Ramsey anzurufen. Beim sechsten Versuch erwiderte die Mitarbeiterin der Hyde-Park-Wohnresidenz: »Sylvia? Ich glaube, sie ist gerade beim Handarbeiten mit Louise. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Handarbeiten mit Louise? Wie ein Kind im Sommerlager. »Nein danke, ich rufe später noch mal an. Haben Sie Besuchszeiten?«
»Wir sehen es am liebsten, wenn Besucher tagsüber zwischen acht und acht kommen.«
»Vielen Dank.«
Ich legte auf und sah mir die Webseite der Hyde-Park-Residenz an. Es gab einen Stundenplan im Internet. Handarbeit mit Louise war aufgeführt. Anschließend fanden der Scrabble Club und Gemeinsame Fantasie-Reisen statt – dann Backen wie bei Muttern . Morgen stand ein dreistündiger Ausflug zum Paramus-Park-Einkaufszentrum auf dem Plan, aber heute …
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