Ich finde dich
Todd wurde gefoltert. Das weißt du doch, oder? Er konnte aber nur wenig verraten – das Refugium in Vermont, ein paar Mitglieder –, aber nicht einmal er weiß, wohin die Leute gehen, nachdem wir ihnen den Neustart ermöglicht haben.«
»Aber sie wissen, wer du bist.«
»Das weiß nur Malcolm. Ich bin eine Ausnahme, weil ich aus dem Ausland kam. Und der Rest? Fresh Start hat ihnen ein neues Leben aufgebaut, ihnen die notwendigen Werkzeuge an die Hand gegeben. Und um die Sicherheit aller zu gewährleisten, gehen die Leute dann ihrer Wege und erzählen niemandem, wohin es sie zieht. Das meine ich mit aufgliedern. Wir alle wissen gerade genug – und kein Stück mehr.«
Keiner wusste, wo Natalie war. Er hatte es mir so gut wie nur möglich erklärt. Natalie schwebte in großer Gefahr, und ich konnte nichts dagegen tun. Natalie war irgendwo da draußen auf sich allein gestellt, und ich konnte nicht bei ihr sein.
Dann fielen bei Benedict die Rollläden. Weitere Erklärungen würde ich nicht bekommen. Das war mir inzwischen klar. Als wir die Bar verließen und zum Haus zurücktorkelten, gab ich mir selbst eine Art Versprechen. Ich würde mich zurückziehen. Ich würde die Finger von der Sache lassen. Ich konnte mit dem Schmerz leben – schließlich hatte ich das in etwas anderer Form schon sechs Jahre lang getan –, wenn im Gegenzug die Sicherheit der Frau, die ich liebte, gewährleistet war.
Ohne Natalie konnte ich leben, nicht aber damit, dass ich etwas tat, was sie in Gefahr bringen könnte. Man hatte mich mehrmals gewarnt. Es wurde Zeit, auf diese Warnungen zu hören.
Ich war raus.
Das sagte ich mir selbst, als ich in die Gästehütte stolperte. Das war mein Plan, als ich den Kopf aufs Kissen legte und die Augen schloss. Das glaubte ich zu tun, als ich mich auf den Rücken drehte und zusah, wie die Zimmerdecke sich drehte, weil ich zu viel getrunken hatte. Das hielt ich für die Wahrheit, bis der Wecker 6:18 Uhr zeigte. Da fiel mir etwas ein, das ich fast schon vergessen gehabt hatte.
Natalies Vater.
Ich fuhr hoch und blieb stocksteif im Bett sitzen.
Ich wusste immer noch nicht, was mit Professor Aaron Kleiner passiert war.
Natürlich war es möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Julie Pottham recht hatte, ihr Vater mit einer Studentin durchgebrannt war und dann noch einmal geheiratet hatte. In dem Fall hätte Shanta ihn allerdings problemlos gefunden. Nein, er war einfach verschwunden.
Genau wie seine Tochter Natalie zwanzig Jahre später.
Vielleicht gab es dafür ja eine einfache Erklärung. Vielleicht hatte Fresh Start auch ihm geholfen. Nein, Fresh Start war erst vor zwanzig Jahren gegründet worden. Könnte Professor Kleiners Verschwinden ein Wegbereiter der Organisation gewesen sein? Malcolm Hume und Natalies Vater hatten sich gekannt. Natalies Mutter war sogar zu ihm gegangen, als Aaron Kleiner die Familie verlassen hatte. Also hatte mein Mentor ihm vielleicht geholfen unterzutauchen und dann … tja … dann hatte er Jahre später unter dem Deckmantel einer Wohltätigkeitsorganisation eine Gruppe gebildet, um anderen Leuten in Kleiners Situation zu helfen?
Möglich.
Außer dass Kleiners Tochter zwanzig Jahre später auch verschwinden musste? War das plausibel?
Nein, das war es nicht.
Und warum sollte die New Yorker Polizei mir ein sechs Jahre altes Überwachungsfoto zeigen? Was hatte das mit Natalies Vater zu tun? Was war mit Danny Zuker und Otto Devereaux? Wie konnte Natalies Schicksal mit dem ihres Vaters zusammenhängen, der vor fünfundzwanzig Jahren verschwunden war?
Lauter gute Fragen.
Ich stand auf und überlegte, wie ich weiter vorgehen könnte. Aber wieso weiter vorgehen? Ich hatte Benedict versprochen, die Finger von der Sache zu lassen. Darüber hinaus verstand ich jetzt die sehr reale und konkrete Gefahr, die ich heraufbeschwor, wenn ich diese Nachforschungen weiterverfolgte – und zwar nicht nur für mich, sondern für viele Menschen, auch für die Frau, die ich liebte. Natalie hatte sich entschlossen unterzutauchen. Ganz egal, ob sie sich selbst, mich oder uns beide schützen wollte, ich musste nicht nur ihren Wunsch, sondern auch ihre Einschätzung respektieren. Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, hatte sie mehr gewusst, als ich jetzt weiß, hatte die Vor- und Nachteile abgewogen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie untertauchen musste.
Wer war ich, dass ich mich über ihre Entscheidung hinwegsetzen durfte?
Wieder war ich also drauf und dran,
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