Ich fühle was, was du nicht siehst - Mallery, S: Ich fühle was, was du nicht siehst
der Bücherei ausgeliehen und sich informiert, aber ihr fehlte jegliche praktische Erfahrung. Sie hatte nie mit Babys zu tun gehabt, und es hatte niemanden gegeben, den sie hätte fragen können. Es wäre schön gewesen, wenn ihr jemand geholfen hätte.
Mit einem Mal war sie so traurig, dass sich ihr der Hals zusammenschnürte. Alles hätte anders sein können, dachte sie. Rückblickend betrachtet ließ sich nur schwer sagen, ob es mit Ethan zusammen besser gewesen wäre und ihre Beziehung eine Chance gehabt hätte. Sie konnte auch nicht sagen, ob sie dann jemals zu schreiben angefangen hätte. Schließlich hatten sich ihre ersten Kurzgeschichten alle darum gedreht, Ethan auf höchst einfallsreiche Art und Weise immer wieder ins Jenseits zu befördern.
Doch unabhängig davon war sie überzeugt davon, dass Ethan – wenn er hätte wählen können – seinen Sohn gern von Geburt an gekannt hätte.
„Es tut mir leid”, flüsterte sie.
„Mir auch.”
Sie drehte sich auf die Seite und sah ihn an. Er küsste sie zart auf den Mund. Dann sahen sie sich lange an.
Liz sah die unendliche Traurigkeit in seinen Augen. Sie erkannte, dass dort, wo die Vergangenheit sein sollte, bei Ethan eine große, schmerzhafte Lücke klaffte. In diesem Moment wusste sie, dass sie nie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Sie war nie über ihn hinweggekommen und vermisste ihn immer noch. Und wenn sie zu lange hierblieb, bestand die Gefahr, dass er diese Wahrheit irgendwann herausfand.
16. KAPITEL
V om Festsaal des Hotels hatte man durch das Panoramafenster einen schönen Ausblick auf den Berg. Liz betrachtete lieber die satten Farben der Bäume und Pflanzen, als Small Talk mit Leuten zu halten, die sie nicht kannte – und das bei einem feierlichen Lunch, an dem sie eigentlich nicht hatte teilnehmen wollen. Aber jetzt war sie nun mal hier.
An dem Anlass an sich war nichts auszusetzen. Doch es kam Liz regelrecht unwirklich vor, dass diesen Frauen hier gleich ein nach ihr benanntes Stipendium verliehen würde.
Betty Higgins, die Sekretärin von der Stipendienstelle des Community College, winkte ihr von einem Tisch aus zu. Liz winkte zurück. Insgesamt gab es ungefähr fünfzehn Tische, an denen fast hundert Leute saßen. Das Essen war erfreulich gut gewesen – ein köstlicher Salat mit ofenfrischem Sauerteigbrot. Doch nachdem die Karamel-Brownies serviert worden waren, stand Dana Marton, die Rektorin, auf und begann mit ihrer Ansprache.
„Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind”, sagte die attraktive, schlanke Frau lächelnd. Dann stellte sie einige Vertreter der Fakultät sowie ein paar wichtige Sponsoren vor. Schließlich brachte sie das Thema auf Liz.
„Dass wir heute hier sind, verdanken wir einer einzigen, außergewöhnlich talentierten Frau. Liz Sutton hat Fool’s Gold nur wenige Monate nach ihrem Highschool-Abschluss verlassen. Sie ist weggezogen, hat ein Kind bekommen und als allein erziehende Mutter ihren Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdient. Dann hat sie begonnen, einen Kriminalroman zu schreiben. Dieses erste Buch, das vor mittlerweile fast sechs Jahren veröffentlicht wurde, hat es an die Spitze der Bestsellerlisten geschafft. Die Helden und Heldinnen ihrer Romane sind nicht nur authentisch, intelligent und warmherzig, sondern sie erinnern uns auch an Menschen, die wir kennen. Und das ist für mich Schreiben in seiner besten Form.”
Dana sah kurz auf ihre Notizen, dann wieder ins Publikum. „Das Bemerkenswerte an Liz’ Werdegang ist allerdings etwas anderes. Ja, sie hat es geschafft, Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden. Doch was so erstaunlich an ihrer Geschichte ist, ist die Tatsache, dass ihre Karriere anderswo beginnen musste. Nicht hier, in dieser Stadt, die wir so sehr lieben.” Dana holte Luft. „Liz ist in einer Stadt, die so stolz auf ihr fürsorgliches Miteinander ist, durch das soziale Netz gefallen. Obwohl wir alle bemerkt haben, dass sie zu Hause vernachlässigt wurde, hat niemand etwas unternommen. Vielleicht lag es daran, dass sie ungewöhnlich erwachsen für ihr Alter war. Ihre Noten waren immer gut, und sie erschien pünktlich zum Unterricht. Vielleicht lag es auch daran, dass wir damals noch nicht so sensibilisiert gegenüber der Vernachlässigung von Kindern waren. Fest steht jedoch, dass wir in Fool’s Gold untätig zugesehen haben, als wir hätten helfen müssen.”
Liz spürte, wie sie errötete. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht auf der Stelle
Weitere Kostenlose Bücher