Ich fühle was, was du nicht siehst - Mallery, S: Ich fühle was, was du nicht siehst
klug?”
„Hey, Söhnchen, ich bin immer noch ziemlich klug”, rief sie.
Er grinste. Dann wandte er sich wieder an Ethan.
„Das war sie wirklich”, antwortete er. „Immer nur die besten Noten. Ein Stipendium fürs College.” Das sie, wie ihm wieder einfiel, seinetwegen nicht genutzt hatte.
„Das ist lange her.” Liz wich seinem Blick aus. „Das Lernen ist mir leichtgefallen. Ich lese gern. Bücher waren meine Freunde.”
„Bist du deshalb Schriftstellerin geworden?”, erkundigte sich Melissa. „Weil du gern gelesen hast.”
„Ich bin überzeugt, dass das eine Rolle gespielt hat. Lesen ist eine der besten Möglichkeiten, schreiben zu lernen.”
„Wie kann man ein Buch zum Freund haben?”, wollte Abby wissen. „Kann man mit Büchern reden?”
„Nein, aber sie nehmen dich mit in eine andere Welt. In der Welt der Bücher kann man sich geborgen fühlen.”
Abby und Melissa wechselten einen Blick. Dann sahen sie wieder Liz an.
„Kannst du mir ein paar Titel sagen, die ich lesen könnte?”, fragte Abby leise.
„Klar. Wir können später in der Bücherei vorbeischauen.”
„Ich lese auch gern”, sagte Tyler.
„Wirst du auch Schriftsteller?”, fragte Melissa. „Wenn du mal groß bist?”
Tyler schüttelte den Kopf. „Ich möchte Bauunternehmer werden, so wie mein Dad.”
Ethan sah gerade Liz an, als Tyler das sagte. Sie zeigte keine Reaktion, als wüsste sie es bereits. Für ihn selbst jedoch waren die Pläne seines Sohnes neu und erfüllten ihn mit Stolz. Allerdings rechnete er damit, dass sich gleich wieder ein Gefühl der Verbitterung bei ihm einstellen würde – schließlich hatte er schon so viel Zeit mit Tyler versäumt.
Die Verbitterung war da, aber nicht mehr so intensiv wie früher. Die Trauer und die Wut waren gedämpft. Weniger wichtig. Liz hatte recht. Er konnte keine Beziehung im Hier und Jetzt aufbauen, wenn er ständig in der Vergangenheit lebte. Wichtig war, was heute mit Tyler geschah.
Sein Blick ruhte auf Liz’ Gesicht. Sie war ein Teil des Lebens seines Sohnes und würde es immer sein. Er hatte Liz einmal geliebt – auch wenn es damals eine unreife Art von Liebe gewesen sein mochte. Es hatte ihm an Lebenserfahrung gefehlt, und er war nie richtig gefordert worden. Er war ein Kind im Körper eines Mannes gewesen. Jetzt war er älter. Doch seine ganze Lebenserfahrung hatte ihn nicht viel schlauer gemacht, wenn es um Liz ging.
Die kleine Fahrradtour am Nachmittag fand ihre Fortsetzung in einem gemeinsamen Abendessen und einem Kinobesuch. Als Ethan Liz und die Kinder abends nach Hause begleitete, war es nach zehn. Alle waren müde.
Liz spürte ihre eigene emotionale Erschöpfung bei jedem Schritt, und sie wusste, dass auch die Mädchen zum Umfallen müde sein mussten. Ausnahmsweise gab es diesmal keinerlei Proteste, ins Bett zu gehen. Während Liz nach den Mädchen sah, sagte Ethan Tyler Gute Nacht. Danach trafen sie sich im Wohnzimmer. Liz wollte sich gerade für den schönen Tag bei ihm bedanken, da ließ etwas in Ethans Blick sie innehalten. Seine Augen leuchteten.
„Ich habe das noch nie getan”, gestand er leise. „Ihn ins Bett gebracht.”
In seinen Worten schwang nichts Vorwurfsvolles mit, doch Liz hatte trotzdem das Gefühl, als hätte er ihr einen Schlag in den Bauch versetzt. Ihr Körper erstarrte, als sie von Schuldgefühlen regelrecht überflutet wurde. Dann sah sie die verschiedenen Stationen im Leben ihres Sohnes wie einen Film vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen.
Mit einem Mal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie viele magische Momente Ethan im Leben seines Kindes versäumt hatte. Das erste Lächeln, die ersten Schritte, das erste Wort. Der erste Schultag, die ersten Freunde. Dazu kamen die vielen alltäglichen Kleinigkeiten, die sie selbst als selbstverständlich empfand. Die Momente, die eine Beziehung ausmachten.
„Es tut mir leid”, flüsterte sie und ließ sich auf die Couch sinken. „Es tut mir schrecklich leid.”
Er setzte sich zu ihr und legte seine Arme um sie. Ausnahmsweise erlaubte Liz es, sich in einer Zeit, wo die Probleme nur so auf sie einstürzten, an jemanden anzulehnen. Wieder zurück in Fool’s Gold zu sein, der Stress mit ihren Nichten und die Schwierigkeiten mit Ethan hatten ihr zugesetzt. Ethan mochte vielleicht Teil ihrer Probleme sein, doch er war auch der einzig sichere Hafen, den sie je gekannt hatte. Dass ihre Beziehung zu ihm damals so unglücklich geendet hatte, spielte im Moment keine Rolle mehr. Hier ging
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