Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
erfundenen Figuren. Ich erfuhr Liebe und Leid durch vergangene Geschichten und erlebte meine Jugend durch Fantasie. Meine Welt ist ein Gewebe aus Wörtern, die meine Glieder, meine Knochen und Sehnen, meine Gedanken und Visionen verknüpfen. Ich bin ein Wesen aus Buchstaben, eine Figur aus Sätzen, eine Ausgeburt der Fantasie.
Die wollen alle Satzzeichen aus meinem Leben löschen, und ich glaube nicht, dass ich das zulassen kann.
Ich schlüpfe wieder in meine alten Kleider und schleiche ins Zimmer zurück. Es ist leer. Adam ist verschwunden, obwohl er gesagt hat, dass er bleiben müsste. Ich verstehe ihn nicht, ich verstehe sein Verhalten nicht, ich verstehe meine Enttäuschung nicht. Wenn ich nur die Frische meiner Haut, das Gefühl, nach so langer Zeit wieder richtig sauber zu sein, nicht so genießen würde. Und ich verstehe nicht, weshalb ich immer noch nicht in den Spiegel geschaut habe, weshalb ich mich davor fürchte, weshalb ich Angst habe, mein Gesicht nicht wiederzuerkennen.
Ich öffne den Schrank.
Er ist angefüllt mit Kleidern, Schuhen, Blusen, Hosen. Die Farben sind so intensiv, dass mir die Augen weh tun, und von solchen Stoffen habe ich bislang nur gehört. Sie sind so edel, dass ich sie kaum zu berühren wage. Die Größen sind perfekt, zu perfekt.
Die haben mich hier erwartet .
Man hat mich verlassen, vernachlässigt, ausgegrenzt und von zu Hause verschleppt. Gestoßen, getreten und allein in eine Zelle gesperrt. Man hat mich hungern lassen, mit einer falschen Freundschaft auf die Probe gestellt und mich in diesen Alptraum gezerrt, für den ich nun dankbar sein soll. Meine Eltern. Meine Lehrer. Adam. Warner. Das Reestablishment. Alle halten mich für verfügbar.
Für eine Puppe, die sie ausstaffieren und in die Knie zwingen können.
Sie irren sich.
»Warner wartet auf dich.«
Ich fahre erschrocken herum, falle dabei gegen die Schranktür, die zuklappt. Als ich Adam sehe, richte ich mich auf, entledige mich meiner Angst. Seine Lippen bewegen sich, aber er spricht nicht. Dann kommt er zu mir, bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich ihn berühren könnte.
Er greift an mir vorbei, öffnet die Tür wieder, hinter der sich all jene Dinge verbergen, die mir Unbehagen verursachen. »Das gehört alles dir«, sagt er, ohne mich anzuschauen, und streicht über den Saum eines leuchtend pflaumenfarbenen Kleids.
»Ich habe Kleider.« Meine Hände glätten die Falten in meinen schmutzigen schäbigen Sachen.
Adam entschließt sich jetzt, mich anzuschauen, aber dabei geraten seine Brauen ins Stolpern, seine Augen blinzeln und starren, seine Lippen öffnen sich staunend. Ich frage mich, ob durch das Waschen ein neues Gesicht zum Vorschein gekommen ist, und werde rot. Ich weiß nicht, weshalb es mir wichtig ist, aber ich hoffe, dass Adam nicht angewidert ist von meinem Anblick.
Er schaut zu Boden. Holt tief Luft. »Ich warte draußen.«
Ich starre auf das violette Kleid, das Adam berührt hat. Ich betrachte den Inhalt des Kleiderschranks nur einen Moment, dann wende ich mich ab. Streiche mir nervös durch die nassen Haare und wappne mich.
Ich bin Juliette.
Ich bin ein Mädchen.
Ich gehöre niemandem.
Und es ist mir einerlei, was Warner von mir erwartet.
Ich gehe raus, und Adam starrt mich einen kurzen Moment an. Dann reibt er sich den Nacken, sagt aber nichts. Er schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. Berührt mich nicht, und das sollte mir gleichgültig sein, aber es fällt mir auf. Ich habe keine Ahnung, was mich hier erwartet, keine Ahnung, wie mein Leben an diesem Ort aussehen wird, und jeder Luxusgegenstand, jedes edle Dekor, all die Schnörkel, Lichter, Farben dieses Gebäudes sind für mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich hoffe, das ganze Ding geht in Flammen auf.
Ich folge Adam durch einen langen mit Teppichen ausgelegten Korridor zu einem gläsernen Fahrstuhl. Er öffnet die Tür mit der Schlüsselkarte, die er auch bei meinem Zimmer benutzt hat, und wir betreten den Aufzug. Ich habe nicht mal gemerkt, dass wir damit nach oben gefahren sind. Mir wird bewusst, dass ich wohl eine furchtbare Szene gemacht habe, als ich hier ankam, und das freut mich.
Ich hoffe, dass ich für Warner eine Enttäuschung auf ganzer Linie bin.
Der Speisesaal ist so groß, dass man dort Tausende von Waisenkindern bewirten könnte. Doch stattdessen sind 7 Banketttische aufgebaut, üppig dekoriert mit blauen Seidentüchern, Orchideen und orientalischen Lilien in Kristallvasen, Gardenien in
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