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Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Titel: Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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behauptete das Reestablishment. Nur bis alle angepasst seien. Nur bis die Leute aufhörten zu protestieren und merkten, dass diese Veränderungen gut für sie waren, gut für ihre Kinder, gut für ihre Zukunft.
    Ich erinnere mich, dass es Regeln gab.
    Keine gefährlichen Fantasien mehr, keine Medikamente auf Rezept. Eine neue Generation aus kerngesunden Menschen wird die Basis der Gesellschaft sein. Die Kranken werden weggesperrt. Die Alten werden ausgesondert. Die Verwirrten werden in Anstalten gesteckt. Nur die Starken sollen überleben.
    Ja.
    Gewiss.
    Keine unsinnigen Sprachen und unsinnigen Geschichten und unsinnigen Gemälde über unsinnigen Kaminsimsen mehr. Kein Weihnachten, Hanukkah, Ramadan oder Diwali. Kein Gerede von Religion, Glauben, Weltanschauung. Weltanschauungen hätten uns beinahe alle umgebracht, sagten sie.
    Weltanschauungen Vorlieben Vorurteile Ideologien spalteten das Volk. Verführten uns. Zerstörten uns.
    Selbstsüchtige Wünsche, Bedürfnisse, Gelüste sollen ausgemerzt werden. Gier, Maßlosigkeit, Unersättlichkeit darf es nicht mehr geben. Stattdessen Selbstbeherrschung, Mäßigung, Sparsamkeit. Eine simple Sprache und ein neues Wörterbuch, das für jeden verständlich ist.
    All das würde uns, unsere Kinder, die Menschheit retten, sagten sie.
    Gleichheit wiederherstellen. Menschlichkeit wiederherstellen. Hoffnung, Heil und Glück wiederherstellen.
    HELFT UNS!
MACHT MIT!
RETTET DIE GESELLSCHAFT!
    Die Plakate hängen noch überall. An Beton und Stahl befestigt, flattern die Reste im Wind. Einige hängen an Masten, an denen hoch oben Lautsprecher angebracht wurden, zweifellos um die Bevölkerung vor Gefahren warnen zu können.
    Doch die Welt ist unheimlich still.
    Draußen in der Kälte sind Menschen unterwegs zur Arbeit in der Fabrik und um Essen für ihre Familien zu besorgen. Hoffnung rinnt in dieser Welt aus Gewehrläufen.
    Um die einstige Idee schert sich keiner mehr.
    Die Menschen wollten sich Hoffnung bewahren. Sie wollten daran glauben, dass alles besser würde. Dass sie sich bald wieder mit Tratsch, Urlaubsplanung, Partys am Wochenende beschäftigen könnten. Das Reestablishment verhieß eine ideale Gesellschaft, und die Bürger waren verzweifelt genug, um daran zu glauben. Ohne zu merken, dass sie ihre Seelen einer Truppe verkauften, die ihre Naivität ausnutzte. Und ihre Angst.
    Die meisten Bürger sind zu verängstigt, um Widerstand zu leisten. Doch einige sind stärker. Sie warten den rechten Moment ab. Und andere haben bereits zu kämpfen begonnen.
    Ich hoffe nur, es ist nicht zu spät.
    Ich betrachte jeden Ast im Wind, jeden Soldaten, jedes Fenster. Meine Augen sind gewiefte Diebe. Sie stehlen das alles, horten es in meinem Geist.
    Ich weiß nicht mehr, wie viele Minuten wir mit Füßen treten.
    Wir halten vor einem Gebäude, das gut 10 Mal größer ist als die Irrenanstalt. Von der Größe abgesehen wirkt es unauffällig – 15 Stockwerke, graue Stahlplatten, in die man Fenster gezwungen hat. Ein trostloser Bau ohne jeden Verweis auf seine wahre Identität.
    Die getarnte Zentrale der Macht.
    In Panzern gibt es ein chaotisches Gewirr aus Knöpfen und Hebeln, und bevor ich mich orientieren kann, öffnet Adam mir die Tür von außen. Seine Hände umfassen wieder meine Taille, und meine Füße landen auf dem Boden, aber mein Herz hämmert so laut, dass er es hören muss. Er lässt mich nicht los.
    Ich schaue auf.
    Er runzelt die Stirn und verengt die Augen, und seine Lippen seine Lippen seine Lippen sind frustriert zusammengepresst.
    Ich trete einen Schritt nach hinten, und 10 000 Teilchen zersplittern zwischen uns. Adam senkt den Blick. Wendet sich ab. Atmet tief ein. 5 Finger ballen sich zögernd zur Faust. »Da entlang.« Er weist mit dem Kopf auf das Gebäude.
    Ich folge ihm ins Innere.

11
    Ich bin auf das Schlimmste gefasst, aber die Realität ist beinahe noch übler.
    Schmutziges Geld tropft von den Wänden, Nahrung für ein Jahr verschwendet auf Marmorböden, Hunderttausende für medizinische Versorgung für Edelmöbel und Perserteppiche verpulvert. Ich spüre die künstliche Wärme aus der Klimaanlage und denke an Kinder, die nach sauberem Wasser schreien. Ich blinzle in Kristalllüster und höre Mütter um Gnade flehen. Ich sehe eine künstliche Welt inmitten einer entsetzlichen Wirklichkeit und kann mich nicht mehr bewegen.
    Nicht mehr atmen.
    Wie viele Menschen müssen gestorben sein, um diesen Luxus zu ermöglichen? Wie viele Menschen haben ihr Heim, ihre Kinder,

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