Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
mir nicht, weil ich nur diesen achtjährigen Jungen vor mir sehe. Der nicht mehr weiß, dass er einst der liebevollste Mensch war, den ich kannte.
Ich kann nicht fassen, was hier vor sich geht.
Ich schließe die Augen und lege den Kopf auf die Knie.
»Du musst dich anziehen«, sagt er.
Ich hebe den Kopf. Blinzle, als hätte ich nicht richtig verstanden. »Ich bin angezogen.«
Adam räuspert sich wieder, aber ziemlich leise. »Da drüben ist das Badezimmer.« Er deutet auf eine Tür, und ich bin plötzlich neugierig. Ich habe von Leuten gehört, die ihr Bad im Zimmer haben. Vermutlich nicht wirklich im Zimmer, aber in direkter Nähe. Ich stehe auf und gehe zu der Tür. Als ich sie öffne, sagt Adam: »Da drin kannst du duschen und dich umziehen. Das Bad … ist der einzige Raum, in dem es keine Kameras gibt«, sagt er leise.
Es gibt hier Kameras .
Liegt nahe.
»Kleider sind da drin.« Er weist mit dem Kopf auf den Schrank. Wirkt plötzlich peinlich berührt.
»Und du darfst nicht rausgehen?«, frage ich.
Er streicht sich über die Stirn. Setzt sich aufs Bett und seufzt. »Du musst dich fertig machen. Warner erwartet dich zum Essen.«
» Essen? « Ich starre ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Ja«, antwortet Adam düster.
»Er wird mir nicht weh tun?« Ich schäme mich für meine Erleichterung, das Nachlassen der Angst, von der ich gar nicht ahnte, dass sie in mir war. »Er will mir Essen geben?« Ich komme fast um vor Hunger, mein Magen ist eine gepeinigte Hungergrube, ich habe solchen Hunger Hunger Hunger . Ich weiß nicht mehr, wie echtes Essen schmeckt.
Adams Miene ist wieder ausdruckslos. »Du solltest dich beeilen. Ich zeige dir, wie alles funktioniert.«
Bevor ich widersprechen kann, ist er schon im Badezimmer, und ich folge ihm. Adam steht mit dem Rücken zu mir in dem kleinen Raum, was ich seltsam finde. »Ich kenne mich aus mit Badezimmern«, sage ich. Ich hatte mal ein richtiges Zuhause. Und eine Familie .
Er dreht sich ganz langsam um, was mich in Panik versetzt. Dann hebt er den Kopf, und sein Blick huscht in alle Richtungen. Er verengt die Augen, schaut mich an. Ballt die rechte Hand zur Faust und legt den Zeigefinger der linken an die Lippen. Ich soll still sein.
Meine Organe scheinen mir aus dem Körper zu fallen.
Ich habe geahnt, dass mir Schlimmes bevorsteht. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es von Adam kommen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass er mir weh tun und mich foltern würde. Dass er mich dazu bringen würde, mir sehnlicher denn je den Tod zu wünschen. Ich merke nicht mal, dass ich weine, bis ich das Wimmern höre und die Tränen spüre, die mir übers Gesicht rinnen, und ich schäme schäme schäme mich meiner Schwäche, aber einem Teil von mir ist sie auch einerlei. Ich bin versucht, um Gnade zu flehen, Adam die Waffe zu stehlen und mich selbst zu erschießen. Würde ist das Einzige, was mir geblieben ist.
Er scheint meine plötzliche Hysterie zu bemerken, denn er starrt mich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. »Nein, Gott, Juliette – ich will doch nicht –« Er flucht leise. Schlägt sich mit der Faust an die Stirn und wendet sich ab. Seufzt tief und geht in dem kleinen Raum auf und ab. Flucht noch mal.
Dann geht er raus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
12
5 Minuten unter heißem Wasser, 2 duftende Lavendelseifen, 1 Flasche Shampoo für meine Haare, weiche Handtücher, die ich mir umlege, und ich beginne zu verstehen.
Die wollen, dass ich vergesse.
Sie glauben, sie könnten meine Erinnerungen, meine Bindungen, meine Prinzipien mit ein paar warmen Mahlzeiten und einem komfortablen Zimmer verschwinden lassen. Für so leicht käuflich halten die mich.
Warner hat offenbar nicht begriffen, dass ich in Armut aufgewachsen bin und kein Problem damit hatte. Ich wollte keine schicken Kleider und Schuhe und kein teures Zeug. Ich wollte nicht in Seide gehüllt sein. Ich wünschte mir lediglich, andere menschliche Wesen mit den Händen und mit dem Herzen berühren zu können. Um mich her erlebte ich die gnadenlose Welt mit ihren schonungslosen Urteilen und ihren kalten unbarmherzigen Augen.
Ich hatte so viel Zeit zuzuhören.
Zu beobachten.
Menschen und Orte und Lebensformen zu studieren. Ich musste nur die Augen öffnen. Und ein Buch aufschlagen, um Geschichten zu erfahren, Erinnerungen zu entdecken, die in die Seiten geritzt waren.
Ich verbrachte mein Leben zwischen Buchseiten.
Da ich keine Beziehungen zu echten Menschen hatte, schuf ich mir welche zu
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