Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
eigenartigerweise die freiesten unter den inmates – aber auch die, die irgendwann einfach tot im Dreck liegen bleiben.»
Als weißer, gebildeter und älterer Mann gehörte ich im Gefängnis zu einer kleinen Minderheit. Ich wurde als solcher von den Mitgefangenen und guards durchaus respektiert. Von Martino und den anderen Zellengenossen in meinem «Olymp» bekam ich zudem mit, wie man sich verhielt, wenn man das eine oder andere Privileg herausschlagen wollte. Man konnte zum Beispiel mit dem Hinweis auf eine notfalls erfundene jüdische Großmutter an deutlich besseres Essen, nämlich kosher food, herankommen. Martino bekam das und gab mir manchmal etwas davon ab: «Der Hamburger besteht wirklich aus Fleisch, das Essen ist sehr fettarm, es gibt gelben feinkörnigen Reis, der auch allein lecker ist, und angekochtes und nicht verkochtes Gemüse (ebenfalls lecker). Hähnchenfleisch kommt unpaniert und ohne irgendwelche Pampe», schrieb ich nach Hause und ahnte schon, was meine Kinder fragen würden: «Warum ich nicht auch versuche, koscheres Essen zu bekommen? Später, wenn ich genug abgenommen habe, das ist jetzt zu gefährlich.»
Dies nämlich war das einzige Vorhaben, das ich hier wirklich realisieren konnte: Ich hatte begonnen, radikal an Gewicht zu verlieren. Woche für Woche brachte ich vier bis fünf Kilo weniger auf die Waage. Mir waren in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden, aber zumindest über meinen eigenen Körper konnte ich Kontrolle gewinnen. Und anscheinend ging das im Gefängnis sogar besser, als es in meinem Alltag draußen geklappt hatte.
Allmählich fand ich auch heraus, welche der Ärzte, die auf der infirmary aus und ein gingen, für die gesundheitlichen Anliegen von uns Insassen ansprechbar waren. Ein junger Doktor genehmigte mir schließlich, im Beisein eines Schließers, eine zweite Wolldecke, die ich mir dann auch ganz unbürokratisch aus dem Materialraum holen durfte. Ein anderer Wachmann wollte sie mir allerdings zwei Tage später wieder wegnehmen, weil die Erlaubnis des Arztes nicht schriftlich vorlag.
Auch mit dem älteren farbigen Arzt, der jeden Tag Dienst auf der infirmary tat, kam ich ins Gespräch. Immer wieder sprach ich ihn auf die Medikamente an, die ich hier nehmen musste, wollte mehr über Wirkungen und Nebenwirkungen wissen. Ich hatte das Gefühl, dass die Betablocker, in Kombination mit meinem rapiden Gewichtsverlust, viel zu stark waren, und wollte die Pillen nicht länger nehmen. Der Arzt versprach mir eine Reduktion little by little , weil ein plötzliches Absetzen zu riskant sei. Allmählich begann ich darauf zu vertrauen, dass man hier zumindest in medizinischer Hinsicht an meinem Überleben interessiert war.
Um mich herum aber regierte das Elend. Die Männer, die direkt von der Straße kamen und hier ihren Drogen- oder Alkoholentzug durchmachten, stöhnten, kotzten und schrien in ihren blauen Plastikwannen, die überall herumstanden. Soweit sie ihre Notdurft überhaupt kontrollieren konnten, mussten sie für den Gang zur Toilette jedes Mal um Einlass in eine der Zellen bitten, in der sich schon mehrere Männer befanden. Natürlich waren sie nirgendwo willkommen. «Heute Vormittag hatte einer der detox -Patienten – das sind Schwerstalkoholiker – offenbar einen Herzstillstand. Er war in einer der Wannen mit Matratzen im Flur untergebracht, wir wurden in unserem Zimmer erst durch die Aufregung auf dem Flur aufmerksam», berichtete ich nach Hause. Krankenschwestern und Pfleger reagierten schnell und professionell, holten den Patienten mit Herzmassage und Elektroschocks ins Leben zurück und alarmierten die Feuerwehr: «Der Mann fing an zu atmen, ich meine, ein Tropf wurde angelegt, auf die Bahre und ab ins Krankenhaus. Warum ich das schreibe? Das können sie hier auf der infirmary, danach ist allerdings auch Schluss. Das ist aber, wie ich finde, eine ganze Menge.» Ich wollte meinen Angehörigen mit dieser Schilderung signalisieren, dass sie keine Angst um mich haben mussten. Später hatte ich noch Gelegenheit, den Einsatz der firefighters am eigenen Leib zu erleben.
Kann man sich an das Leben im Knast gewöhnen, selbst in einem so verwahrlosten Bau wie dem Broward County Jail? Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Man kann nicht nur, man muss sogar. Den größten Teil meiner Energie verbrauchte ich dort damit, mich um die Befriedigung meiner unmittelbaren Bedürfnisse zu kümmern: Essen, Trinken, Schlafen und ein paar Kleidungsstücke, die halbwegs passten und
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