Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
Ketten lösen konnten.
Dann durfte ich meinen schicken Zweiteiler anziehen.
Nach dem Umkleiden wurde ich erneut gefesselt und in den Gerichtssaal geführt. Bevor die Jury in den Saal kam, nahm man mir nur die Handschellen ab. Da ich hinter einer hölzernen Balustrade saß, konnten die Jurymitglieder meine Füße nicht sehen – jedenfalls rein theoretisch. Am ersten Verhandlungstag wurde von unseren Anwälten längere Zeit darüber diskutiert, ob bei dem einen oder anderen von uns nicht doch eine Kette im sichtbaren Bereich aufgeblitzt war. Das Ganze war sowieso eine Farce. Die Anwesenheit mehrerer Bewacher machte klar, dass wir aus dem Gefängnis kamen.
Der Strafprozess begann mit der Auswahl der Jurymitglieder, und das war eine zeitraubende und mühsame Prozedur. Die Idee hinter der Jury-Gerichtsbarkeit ist eigentlich zutiefst demokratisch: Urteile in Strafverfahren und Zivilprozessen sollen im wahrsten Sinne des Wortes «im Namen des Volkes», nämlich durch das Volk selbst, gefunden werden. In der Realität aber führt das heute oft dazu, dass Angehörige eher bildungsferner Schichten über hochkomplexe juristische Tatbestände zu Gericht sitzen. Eine halbwegs repräsentative Auswahl von Menschen aus dem Volk kommt in einer zwölfköpfigen Jury in der Regel nicht zusammen. Zwar kann jeder wahlberechtigte Bürger der USA per Zufallsstichprobe als Laienrichter ins Gericht einbestellt werden. Der Mehrheit der Amerikaner und Amerikanerinnen passiert das auch irgendwann im Laufe ihres Lebens. Doch angesichts einer Ladung zum Gericht heißt es für die meisten: Rette sich, wer kann. Der Dienst an der Gerechtigkeit ist eine Bürgerpflicht, für die berufliche und finanzielle Nachteile in Kauf genommen werden müssen, und sie können beträchtlich sein. Arbeitgeber dürfen zwar niemandem kündigen, weil er wochenlang im Gericht festsitzt, aber sie sind nicht verpflichtet, den Lohn weiterzuzahlen. Die Aufwandsentschädigungen, die von den Gerichten gezahlt werden, sind dagegen bescheiden: Sie liegen, je nach Bundesstaat und Länge des Verfahrens, zwischen 15 und 30 Dollar pro Tag.
Jeder, der einen einigermaßen gut bezahlten Job oder sonst etwas Besseres zu tun hat, versucht also, dieser Verpflichtung zu entkommen. So sind unter den Geschworenen in der Regel wenig junge Menschen, wenig Akademiker oder erfolgreich Berufstätige, wenig Liberale, aber viele eingefleischte Patrioten.
Für unseren ersten Verhandlungstag hatte das Gericht 42 potenzielle Jurymitglieder vorgeladen. Richter William Dimitrouleas informierte sie zunächst über den Fall, über die Namen der Angeklagten und der Zeugen: Kannte jemand den Fall oder daran Beteiligte? Niemand hob die Hand. Mehr Wortmeldungen gab es, als andere Hinderungsgründe vorgebracht werden durften, am Prozess teilzunehmen: Eine Frau ließ über ihren Ehemann mitteilen, dass sie kaum Englisch verstand. Mehrere brachten anstehende Krankenbehandlungen vor, unter ihnen ein Mann, der 92 Jahre alt war. Einige sprachen von pflegebedürftigen Angehörigen, andere mussten ihre Kinder morgens zur Schule bringen und später wieder abholen. So mancher hatte wichtige berufliche Verpflichtungen, einer musste zur Schule gehen, ein anderer hatte einen Urlaub gebucht. In jedem einzelnen Fall entschied der Richter, ob dies ein triftiger Grund zur Befreiung von der Jury-Pflicht war. Am Ende dieser Runde war ein Drittel der Anwesenden entlassen.
Die Verbliebenen wurden nach ihren persönlichen Lebensumständen befragt: Waren sie berufstätig, verheiratet, hatten sie Kinder? Waren sie selbst schon einmal Angeklagte oder Opfer in einem Strafverfahren gewesen? Gab es in ihrem Freundeskreis Polizei- oder FBI-Beamte? Welche Hobbys hatten sie?
Dann wurde sie über die Grundzüge ihrer Aufgabe belehrt: Sie hatten von der Unschuld der Angeklagten auszugehen. Wenn sie mit einzelnen Gesetzen nicht einverstanden waren, die hier angewandt wurden, sei der Gerichtssaal nicht der richtige Ort, dagegen zu protestieren. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft sollten sie bitte nicht als Beweis einer Straftat verstehen. Und Zeugen waren zwar verpflichtet, die Wahrheit zu sagen; aber die Jurymitglieder sollten sich stets bewusst sein, dass sie auch lügen könnten – selbst wenn Polizeibeamte als Zeugen gehört würden.
Die Kandidaten sollten sich auch Gedanken darüber machen, ob sie eventuell befangen waren: Wer schon beim Umgang mit der Justiz irgendwie einen bitteren Nachgeschmack aus einem anderen
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