Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
Verfahren spürte, sollte sich melden. Wer glaubte, dass er gegen deutsche Angeklagte nicht objektiv urteilen könne, ebenso. Auch nach Vorbehalten gegen Banker und Investmentgeschäfte wurde gefragt: Hatte einer der Anwesenden auf dem Finanzmarkt schon einmal Geld verloren?
Ein Mann trug vor, dass er seiner Meinung nach eindeutig zu viele Tickets wegen Schnellfahrens von der Polizei kassiert hatte. Eine Frau fand, ihr Neffe sei mit 15 Jahren Haft für einen Autodiebstahl viel zu hart bestraft worden. Ein anderer Mann hatte mehrere Söhne, die im Knast saßen. Eine Frau las gerade ein Buch über den Holocaust und war sich nicht sicher, ob das ihre Gefühle gegenüber Deutschen beeinflusste. Ein Mann hatte aus religiösen Motiven grundsätzliche Bedenken, über andere zu urteilen. Zwei oder drei Kandidaten wollten nichts mit einem Fall zu tun haben, in dem Off-Shore-Banken eine Rolle spielten. Aber alle bemühten sich, beim Vorbringen dieser Bedenken bloß nicht den Eindruck zu erwecken, als wollten sie sich vor ihrem Einsatz als Geschworene drücken.
Dann zogen sich Richter, Staatsanwalt und Verteidiger zur Beratung zurück. Jeder der Beteiligten hatte das Recht, eine bestimmte Zahl von Kandidaten abzulehnen. Und so geschah etwas, was William Dimitrouleas in seinen acht Jahren als Strafrichter noch nie passiert war: Am Ende des Tages waren keine 12 Geschworenen übrig. Weitere 17 Kandidaten mussten für den nächsten Tag einbestellt werden, die ganze Prozedur wiederholte sich.
Erst am Nachmittag des zweiten Tages stand die Auswahl fest: Sechs Männer und sechs Frauen, unter ihnen Weiße, Schwarze und Latinos. Die meisten von ihnen waren jenseits der 50 und hatten bereits erwachsene Kinder. Einige waren Rentner, einige noch berufstätig: etwa als Buchhalter, als Auslieferungsfahrer und in anderen Jobs im Dienstleistungsbereich. Es gab auch eine Lehrerin, einen Flugbegleiter und einen Computerdesigner. Mindestens zwei Mitglieder der Jury sprachen, soweit ich das mitbekam, nur gebrochen Englisch.
Die Geschworenen wurden vereidigt und von Richter Dimitrouleas ausführlich über ihre Pflichten, den Fall und die Straftatbestände belehrt, die in der Anklageschrift standen. Diese zwölf Männer und Frauen, von denen einige wohl noch nie zuvor einen Gerichtssaal betreten hatten, würden am Ende einstimmig darüber entscheiden müssen, ob wir im Sinne der Anklage «schuldig» oder «nicht schuldig» waren. Sie wurden zwar nicht wie in John Grishams «Die Jury» für die Dauer des Prozesses in einem Hotel interniert, sondern durften abends nach Hause gehen. Aber jeden Tag wurden sie wieder und oft mehrmals ermahnt, mit niemandem über das, was sie im Gericht gesehen und gehört hatten, zu sprechen.
Und wenn Staatsanwalt und Verteidiger am Tisch des Richters die Köpfe zusammensteckten, um Verfahrensfragen zu diskutieren, würde man sie hinausschicken oder mit einer Art Klangteppich beschallen. So sollte gewährleistet werden, dass zwölf einfache Männer und Frauen aus dem Volk ganz objektiv darüber urteilen konnten, wer hier im Recht war.
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Fort Lauderdale, 7. April 2006
«Lieber Reinhard!
Heute haben wir erfahren, dass die Besuchszeiten im Broward County Jail so ungünstig sind, dass wir Dich, bevor Montag der Prozess weitergeht, nicht sehen können. Wir wissen genau, dass es eine schwere Situation sein wird, wenn wir uns im Gerichtssaal begegnen und uns dann nach so langer Zeit das erste Mal wieder sehen und uns dann nicht mal begrüßen können. Auf jeden Fall nicht so, wie wir uns es dann wünschen. Wir bereiten uns hier jetzt schon auf diesen Moment vor und versuchen uns vorzustellen, wie wir trotz aller Betroffenheit die Fassung bewahren können.
Sicherlich wird das eine oder andere Tränchen verdrückt werden, daran lässt sich gar nichts machen. Du sollst aber wissen, dass wir voller Zuversicht und Mut kommen. Auch wenn wir nicht mit Dir sprechen können, sollst Du wissen, dass wir im Gerichtssaal nicht nur wortwörtlich hinter Dir sitzen, sondern auch vorbehaltlos sinnbildlich hinter Dir stehen.
Auch Du bereitest Dich wahrscheinlich schon auf unser Zusammentreffen vor. Sei versichert, dass wir unerschütterlich an Dich glauben und wir uns trotz der Umstände wahnsinnig freuen, Dich wiederzusehen.
Wir begreifen unser Wiedersehen als Chance, unseren unerschütterlichen Zusammenhalt zu demonstrieren.
Wir freuen uns auf Dich!
Deine Anne Jo, Lisa Lou, Jakob und Jonathan»
«Wie ein Theatersaal», so
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