Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
Niemand ahnte damals, dass Ken Jenne anderthalb Jahre später als federal inmate Nummer 77434 - 004 einer von uns sein würde.
Vorläufig bekam ich nur mit, dass dieser Mann als Gefängnisdirektor einen lausigen Job machte. Im Broward County Jail regierten Gleichgültigkeit, Verwahrlosung, Dreck und Lärm. Die Qualität des Essens war miserabel – auch von den Schließern hörte ich, dass es kaum irgendwo anders noch schlechter war. Die gesundheitliche Versorgung in diesem Gefängnis war seit Anfang der neunziger Jahre mehrmals Gegenstand staatlicher Untersuchungen gewesen, ohne dass sich etwas Grundsätzliches geändert hätte. Einer ständig wachsenden Zahl von Inhaftierten wurden Psychopharmaka verschrieben. Allein zwischen den Jahren 2000 und 2003, so zeigte eine der Studien, war ihr Anteil von 14 auf fast 21 Prozent gestiegen. Immer wieder kam es außerdem zu gewalttätigen Übergriffen von Schließern auf Gefangene, die dabei schwer verletzt wurden. Und bis heute scheint sich an den Verhältnissen wenig geändert zu haben: Im Sommer 2009 ist in der lokalen Tagespresse von alarmierend hohen Suizidraten im Broward County Jail zu lesen. Innerhalb eines Jahres haben sich dort fünf Häftlinge das Leben genommen.
Angesichts der drangvollen Enge, der absoluten Sinnlosigkeit des Daseins dort, der Leere und Langeweile ohne jedes Beschäftigungs-, Bewegungs- oder Bildungsangebot ist das alles nicht besonders verwunderlich. Für mich war es in dieser Situation wichtig, jedenfalls einen Gesprächspartner wie Martino zu haben: Während andere inmates auf der infirmary kamen und gingen, gehörten wir beide nun schon seit Monaten zur Stammbelegung unserer Fünf-Mann-Zelle, dem «Olymp». Martino war, wie ich, fest davon überzeugt, dass er über kurz oder lang in die Existenz zurückkehren würde, die er sich draußen aufgebaut hatte, zu seiner Freundin und in sein privates Flugunternehmen.
Wir wollten irgendwas tun, um unseren Geist sinnvoll zu beschäftigen, während wir in dieser Warteschleife festhingen. Gemeinsam paukten wir aus seinem kleinen Lehrbuch, das wir von einem Mithäftling bekommen hatten, «Italienisch in 100 Tagen». Oft sprachen wir darüber, wie nachhaltig dieser Aufenthalt hier unseren Blick auf das Leben verändert hatte. Wie sehr wir, wenn wir wieder draußen wären, die kleinen, in Wirklichkeit aber großen Dinge zu schätzen gelernt haben würden: ein Essen, das wir uns selbst aussuchen konnten. Frische Luft. Ruhe. Die Freiheit, unsere unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse so zu befriedigen, wie wir es wollten.
Allerdings wurde Martino, den ich anfangs als den Sunnyboy der infirmary kennengelernt hatte, immer schweigsamer und gereizter. Die Versuche seines Anwaltes, ihn über einen Deal mit dem Staatsanwalt aus dem Knast zu holen, waren gescheitert. Er musste als Angeklagter vor eine Jury treten, und er wusste nicht, wie das enden würde.
Sein Strafprozess begann Mitte Mai vor dem Strafgericht von Fort Lauderdale. Zehn Tage später sprach ihn die Jury der Kindesentführung schuldig. Unser Zellengenosse kam schweigend aus dem Gericht zurück, legte sich auf sein Bett und drehte uns den Rücken zu. Er wollte mit niemandem sprechen.
Ein paar Tage später erfuhr ich, welches Strafmaß er kassiert hatte: 25 Jahre. Der Staatsanwalt hatte lebenslänglich gefordert. Wenn ihm 15 Prozent good time angerechnet werden und wenn er sich bis dahin im Gefängnis nichts zuschulden kommen lässt, wird Martino am 17. Juni 2024 aus dem Knast entlassen. So ist es jedenfalls im Internet auf der Website des Florida Department of Corrections vermerkt.
Sein Verbrechen? In den Presseberichten über seinen Prozess stand ziemlich genau das, was er mir schon Monate zuvor erzählt hatte: Die Großeltern eines kleinen fünfjährigen Mädchens hatten ihn um Hilfe gebeten. Er sollte das Kind aus der Wohnung ihrer Tochter holen, wo es angeblich vom Freund der Mutter sexuell belästigt wurde. So, wie Martinos Anwalt den Fall vor Gericht darstellte, war bei seinem Mandanten eine Sicherung durchgebrannt, als er das Wort «Missbrauch» hörte: Er war selbst als Kind Opfer solcher Übergriffe gewesen. Martino war, so führte sein Verteidiger weiter aus, bis oben hin voll mit Beruhigungsmitteln, als er in einer Polizeiuniform bei der Mutter des Mädchens aufkreuzte. Ob er sie wirklich mit einer scharfen Waffe bedrohte oder ob er mit einem Taser (einer in der Regel nicht lebensbedrohlichen Elektroschockwaffe) vor ihr
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