Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
herumfuchtelte, konnte nicht wirklich geklärt werden. Er nahm das Mädchen mit und brachte es zu seinen Großeltern. Diese meldeten sich bei der Polizei, als sie erfuhren, dass nach dem Kind gefahndet wurde. Mehr war nicht passiert.
25 Jahre. Martino hatte für seine Aktion kein Geld genommen. Er hatte kein Motiv, außer der möglicherweise irrigen Annahme, er würde dem Kind und seinen Großeltern damit helfen. Er war nicht vorbestraft. Er hatte zwar dem Mädchen und seiner Mutter einen Schrecken eingejagt, aber ansonsten niemandem etwas zuleide getan. Sein Leben als Pilot und Flugunternehmer, sein Leben als Mann, der vielleicht selbst bald eine Familie gründen wollte, war mit diesem Urteil unwiederbringlich vorbei. Worüber hätte er noch mit uns reden sollen?
Unser Zellengenosse war für uns unansprechbar. Er, der mir gezeigt hatte, wie man selbst in diesem Knast an besseres Essen herankam, nahm jetzt kaum noch etwas zu sich. Manchmal musste er sich direkt nach dem Essen übergeben. Mit den Wachleuten, deren Liebling er einst gewesen war, hatte er jetzt immer wieder heftige Konflikte. Er wurde aus unserem «Olymp» herausgeholt und in eine Einzelzelle verlegt. Manchmal sah ich ihn noch durch die Glasscheibe, die seine Zelle vom Flur trennte. Meist lag er einfach auf dem Fußboden, apathisch, dösend oder schlafend. Vermutlich bekam er inzwischen auch Psychopharmaka.
Für mich als Strafverteidiger, der auch schon einiges erlebt und gesehen hatte, war sein Urteil einfach unfassbar. In Deutschland hätte derselbe Angeklagte nicht länger als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft sitzen dürfen. Wahrscheinlich wäre er vor seinem Prozess überhaupt nicht inhaftiert gewesen. Der Mann hatte ein eigenes Unternehmen und feste soziale Beziehungen, es bestand weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr. Er hätte, nach deutschem Recht, für den Straftatbestand der Kindesentziehung mit einer Gefängnisstrafe von maximal fünf Jahren rechnen müssen; wahrscheinlich aber hätte das Gericht eine Bewährungsstrafe verhängt. Er hätte die Chance auf eine Zukunft bekommen. Hier war er nun nur noch einer von Millionen bodies, die den amerikanischen Steuerzahler jahrzehntelang Geld kosten würden – und der Gefängnisindustrie jahrzehntelang Geld einbringen.
Wie sich solche drakonischen Strafen auch auf den Umgang der Gefangenen untereinander auswirkten, bekam ich erst allmählich mit. Unter der Oberfläche eines oft freundlichen und solidarischen Umgangs miteinander lauerten Misstrauen und Angst vor Bespitzelung. Unsere Anwälte hatten uns von Anfang an eingeschärft, mit niemandem im Gefängnis über das, was uns vorgeworfen wurde, zu reden. Das war natürlich kaum durchzuhalten – schließlich beschäftigte mich nichts mehr als mein Strafverfahren und die Frage, welche Erfahrungen andere mit dem Gericht gemacht hatten. Aber es gibt in den USA ein Wort, das jeder Gefangene fürchtet: snitch . Zu Deutsch: verpfeifen, verraten, verzinken oder auch bespitzeln.
Eines Tages hatten wir auf der infirmary einen Neuzugang, einen sehr jungen Mann, der direkt von draußen kam. Der Junge wirkte völlig verstört und heulte praktisch den ganzen Tag. Wie wir in der Zeitung gelesen hatten, stand er im Verdacht, seine Freundin erstochen zu haben. Sofort nahmen sich einige der alteingesessenen Gefangenen sehr fürsorglich seiner an. Sie holten ihn zu sich an den Essenstisch, nahmen ihn in den Arm und ermunterten ihn, erst einmal sein Herz auszuschütten. Auch ich wurde zu ihnen in die Runde gebeten – einer meiner Mitinsassen raunte mir zu, auch für mich könnte dieses Gespräch sehr nützlich sein.
Später hat einer aus dieser Runde einen Brief an die Staatsanwaltschaft geschrieben und ihr mitgeteilt, dass der Junge ihm detailliert über den Tathergang und seine Beteiligung daran berichtet habe. Er bot weitere Informationen im Tausch gegen eine Verkürzung seiner Haftstrafe an. Und er bot mich an – als Zeugen, der alles mitbekommen habe.
Glücklicherweise habe ich nie wieder etwas davon gehört. Vermutlich war der Staatsanwalt auf diese Zeugen nicht angewiesen. Aber solche Deals sind im Gefängnis gang und gäbe, und jeder weiß, dass Gefangene, die als snitch auftreten, dabei oft vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen. Trotzdem machen Staatsanwälte immer wieder von solchen Zeugen Gebrauch, wenn sie in Beweisnot geraten.
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Inzwischen hatte sich meine Verhaftung in Hamburg herumgesprochen. Anfangs hatten nur der engste Kreis um
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