Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
die Möglichkeit habe, zumindest zeitweise an eine Gitarre zu kommen. Ich werde selbstverständlich berichten. Von Euch wünsche ich mir, dass Ihr auf jeden Fall weitermacht und alle noch da seid, wenn ich zurückkomme – auch wenn das noch etwas dauern wird. Vielleicht findet Ihr einen Keyboarder, der für mich einspringen kann. Ansonsten – ohne geht es auch!
Habt nochmals vielen Dank für alles und grüßt Eure Lebensgefährten und Lebensgefährtinnen von mir. Stay tuned (ich mache das auch)! Reinhard»
Wenn ich heute auf jene Tage zurückblicke, so denke ich: Das war eigentlich die schlimmste Zeit. Bis zum 21. April 2006 hatte ich mit der Hoffnung gelebt, dass dieser Albtraum mit dem Urteil der Jury einfach vorbei sein würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es mir auch nicht so viel ausgemacht, dass ich wieder im Broward County Jail saß, denn ich verbrachte meine Tage ja ohnehin im Gericht, wo ich mit Jeanne Baker und Jan Jütting sprechen konnte, und ab und zu auch mit meinen Kindern.
Aber jetzt war zum ersten Mal klar: Das hier konnte noch Jahre dauern. Erst einmal musste ich noch Monate auf die Entscheidung über mein Strafmaß warten, dann erst konnten wir über weitere Schritte entscheiden: darüber, in den appeal zu gehen oder meine Überstellung in ein deutsches Gefängnis zu betreiben.
Es war nicht zu fassen: Wir hatten die Jury nicht von meiner Unschuld überzeugen können. Das konnte ich gar nicht verstehen. Nach wie vor fiel es mir schwer, den Prozess überhaupt aus dieser Perspektive zu betrachten. Mein ganzes Berufsleben hatte gegolten: in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Und jetzt hatten ein paar vage Zweifel, ob an den Vorwürfen nicht doch irgendwas dran sein könnte, gereicht, um mich aus allem herauszureißen, was mein bisheriges Leben gewesen war. Während meine Kinder und die Mitarbeiter meiner Kanzlei zu Hause weiterkämpfen mussten, dass dieses Urteil nicht auch noch die Existenzgrundlage unserer Familie und ein gutes Dutzend Arbeitsplätze vernichtete.
Das Letzte, was ich mir jetzt aber leisten konnte und wollte, war Selbstmitleid. An meinen Mitgefangenen konnte ich jeden Tag beobachten, was aus Menschen wird, die sich selbst aufgeben. Vielen von ihnen wurden Psychopharmaka verschrieben. Mir hat man solche Medikamente nie angeboten. Ich habe auch nie tagelang auf dem Bett gelegen, an die Decke gestarrt und mich irgendeiner Verzweiflung hingegeben.
Am Nachmittag des 26. April 2006 schrieb ich zwei lange Briefe nach Hamburg. Beide sollten mir und meinen Angehörigen helfen, die Lähmung zu überwinden, auch wenn es nicht einfach war, den Blick jetzt wieder in die Zukunft zu richten. Mein Brief an Jan Jütting beschäftigte sich mit der Frage, welche rechtlichen Möglichkeiten es noch gab, am Urteil der Jury zu rütteln. Trotz aller juristischen Fragen, so fand ich aber, musste sich das Leben in Hamburg auch mal wieder um etwas anderes drehen als um meinen Fall. Und das schrieb ich meinen Kindern in einem zweiten Brief.
Erst einmal erzählte ich von meinen Gedanken und Gefühlen: «Es gibt viele Dinge, die mir in den letzten Monaten durch den Kopf gegangen sind. Da ist nicht nur meine unglaubliche Dummheit, überhaupt hierher zu fahren, nicht nur die hochkriminelle und skrupellose Falschbeschuldigung durch Carl F. und sodann die Willkür-Entscheidung einer amerikanischen Jury, es ist vor allem der gedankliche Umgang damit, den ich an mir selbst beobachte.» Im Grunde genommen, führte ich weiter aus, sei der Blick zurück nämlich ziemlich schnell abgehakt. «Das ist schon erstaunlich, andere Leute würden möglicherweise den ganzen Tag in ihrer Zelle rumrennen und über Vergeltung nachdenken – ich nicht.» Ich suchte vielmehr nach anderen, positiveren Themen, auf die ich meine Gedanken richten und mit denen ich meine Hoffnung auf das Leben nach dem Knast nähren konnte: Ich wollte mir jetzt die Umbaupläne für unser Haus auf Mallorca vornehmen. Ich brauchte etwas, worauf ich mich freuen konnte.
Ich schrieb den Kindern, wie wichtig es sei, dass sie sich jetzt wieder auf ihre Ausbildung konzentrierten. Die vier sollten sich bei all dem, was ohnehin noch auf sie zukam, jedenfalls keine Sorgen um mein Befinden machen. «Wenn Ihr die letzten Monate betreffend meine Person Revue passieren lasst (und diesen Brief richtig lest)», so schrieb ich ihnen, «dann werdet Ihr wissen, dass ich offenbar mit einem ziemlich gesunden Überlebenswillen ausgestattet bin. Ich komme
Weitere Kostenlose Bücher