Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
abzeichnet, dass die hinterste Reihe heute nicht mit kriminellen Ausländern belegt wird.
Mit klirrenden Ketten werden die Angeklagten in die Sitzreihen geschoben. In Handschellen und Fesseln, die vom Bauch bis zu den Knöcheln reichen, setzen sie sich hin, wenn die marshals es von ihnen verlangen.
Mich hat diese Szenerie beim ersten Mal schockiert. Inzwischen habe ich sie in drei Gerichten von Grenzorten gesehen: gefesselte Einwanderer, die Gerichtssäle füllen und dann nach einer Stunde oder zwei rausschlurfen, um in die Haftanstalten abtransportiert zu werden. Anfangs habe ich mich gefragt, ob ihre schnürbandlosen Schuhe und Boots, deren Zungen vorne heraushängen, dem neusten Modetrend bei jungen Mexikanern entsprechen. Später begriff ich, dass die marshals anordnen, die Schnürsenkel zu entfernen (weil sie potenzielle Waffen oder Selbstmordinstrumente sind), und dass dieser Umstand, nicht etwa die Ketten, erklärt, warum sie beim Laufen ihre Füße nicht heben.
Bei diesen Massenverurteilungen gehörte ich einer kleinen Minderheit an. Die Richter, die marshals, die Wachmänner und ich – wir alle waren weiß und schon etwas älter, wir alle hatten einen Job und ein Zuhause. Auf der anderen Seite: die kriminellen Ausländer, alle jung und schlank, meist mit muskulösen Armen und schwieligen Händen, schwarzen Haaren und wettergebräunter Haut. In diesen Gerichtssälen begegnet der Süden dem Norden, hier stoßen die äußeren Verteidigungslinien der globalen Wirtschaft auf die kollektive Verzweiflung, die auf der anderen Seite steht. Es ist erschreckend, wie deutlich sichtbar dieses Ungleichgewicht hier wird.
Richter Green kommt herein. ‹Alle aufstehen›, verkündet der Gerichtsdiener, und die Einwanderer stehen auf, um unisono dem spanischsprachigen Echo des zweisprachigen Gerichtssekretärs zu folgen.
Im Laufe der letzten ein, zwei Tage hat jeder Gefangene seine Geschichte innerhalb weniger Minuten einem Pflichtverteidiger erzählt, dessen Plädoyer aus wenigen dürren Worten bestehen wird. Anders als im amerikanischen Kriminaljustiz-System garantiert das Einwanderungsrecht kein Recht auf einen Anwalt. Nur diejenigen, gegen die auch strafrechtliche Vorwürfe erhoben werden, haben Anspruch auf eine kostenlose Verteidigung, aber das eher pro forma – ein Glücksfall für viele örtliche Anwälte, die staatliche Honorare für ihre eher symbolische Verteidigungsarbeit einstreichen. Der Anwalt, der die Einwanderer am 17. April in Del Rio verteidigte, wurde vom Richter öffentlich dafür gelobt, dass er es rechtzeitig geschafft hatte, seinen Platz einzunehmen. (Richter Greens Gratulation blieb unübersetzt.)
Einer nach dem anderen werden die Angeklagten nun vor den Richter geführt. Ein Vertreter der CBP (Customs and Border Protection) erklärt dem Richter, dass der Beschuldigte die Grenze überquert habe, ohne sich an den Kontrollposten zu melden, und zählt alle vorhergehenden Grenzverletzungen und Straftaten auf.
Mehr als fünfzig Anhörungen von Angeklagten werden mit demselben Richter, demselben öffentlichen Ankläger und demselben Ergebnis durchgezogen: schuldig im Sinne der Anklage. Alle bleiben in Haft.
Vor der Anhörung der Einzelfälle hatte Richter Judy sie alle zusammen gefragt, ob sie Zeit hatten, ihren Anwalt zu sprechen, ob sie bedroht oder gezwungen wurden, sich schuldig zu bekennen, ob sie wissentlich die Gesetze der Vereinigten Staaten verletzt haben, als sie die Grenzen überschritten. Sie haben im Chor mit ‹Sí› und ‹No› geantwortet wie eine brave Schulklasse.
Wenn dann jeder einzeln vor dem Richter steht, liest ihr gemeinsamer Verteidiger aus einem Papier, das sein Assistent vorbereitet hat, die kurz zusammengefassten Geschichten vor und bittet um Milde für die Einwanderer.
Keiner hat mehr als eine achtklassige Schulbildung hinter sich, drei von vier berufen sich auf medizinische Notsituationen, alle kamen über die Grenze, um sich von ihrer Arbeit ernähren zu können, und viele hofften, zu ihrer Familie zu gelangen, die dringend nach ihnen verlangt. Eine Kurzdarstellung nach der anderen handelt von Vätern, Müttern, Witwen, Kindern mit Hirntumoren, Herzkrankheiten, Unfallschäden, Arbeitslosigkeit und Armut.»
Mit solchen Männern saß ich zusammen in der CI Reeves. Beim ersten Mal wurden sie vielleicht nur zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt, aber dann stiegen ihre Strafen rasch an: Schon beim nächsten Gerichtstermin waren es ein paar Monate und bald ein paar
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