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Ich gegen Osborne

Ich gegen Osborne

Titel: Ich gegen Osborne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joey Goebel
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ihn auf. »Das gilt für die ganze Klasse, bis zum Klingeln. Warum muss ich das jeden Tag von neuem sagen?«
    [45]  Als sich ein Junge partout nicht setzen wollte, ging Mr.   Runnels zu ihm und sagte leise etwas, das ihn umstimmte. Ich betrachtete den Kopf des Jungen, einen massigen Kopf, durch den wahrscheinlich nie ein freundlicher Gedanke gegangen war. Ich hatte einmal versucht, mit ihm zu reden, und er hatte mich aufgefordert, den Mund zu halten. Auf einer Wange hatte er immer noch einen blauen Fleck vom letzten Pep-Rally-Krawall, der in Osborne bereits legendären Status genoss, obwohl er ganze zwei Wochen zurücklag. Keiner kannte die genauen Ursachen; wir wussten nur, dass es bei einer Aufwärmveranstaltung für das Publikum vor dem Spiel des Basketballteams der Jungs auf der Zuschauertribüne zu zwei Schlägereien gleichzeitig und im anschließenden Gedränge zu drei (laut manchen Berichten sechs) weiteren Schlägereien gekommen war. So irritierend das Ganze war, so wenig überraschte es mich. Sämtliche schwachen Lichter der Schule in einen einzigen Raum zu stecken, war mir schon immer als ausgesprochen schlechte Idee erschienen.
    Während ich meine Mitschüler beobachtete, wurde Tylers Hip-Hop-Slang so penetrant, dass er mir überhaupt nicht mehr wie der Mensch vorkam, mit dem ich mich noch wenige Minuten zuvor unterhalten hatte. Er gab mit Heldentaten an, die er angeblich in Panama City vollbracht hatte und von denen ich hoffte, dass sie nie passiert waren. Ich konnte kaum glauben, dass dieser wilde, ungehemmte Körper demselben Tyler gehörte, der einst völlig zufrieden neben mir gesessen und Nintendo gespielt oder freitags abends die Johnny Carson Show gesehen hatte. Ich sah uns als zehnjährige Jungs, wie wir kichernd [46]  National-Geographic-Hefte durchblätterten, auf der Suche nach den nackten Hängebrüsten afrikanischer Stammesfrauen. Ich sah uns mit sieben Jahren, wie wir zeichneten, was wir für Vaginas hielten. Meine Zeichnung sah aus wie eine Qualle und seine wie der Finger von E.T.
    Ich wickelte meinen Daumen aus dem Taschentuch, der nun nicht mehr blutete, und betrachtete meine Hände, die, obwohl so viel Zeit vergangen und so viel passiert war, immer noch dieselben Hände waren, mit denen ich auf die Welt gekommen war, dieselbe Ansammlung von Materie, die all die Jahre die Hände gebildet hatten, die ich auf Fotos von mir als Fünfjähriger gehabt hatte, was ich ganz erstaunlich fand.
    Ich trauerte um diese kindliche Version von mir wie um einen verstorbenen mir nahestehenden Menschen.
    8 . 20   Ein Bild tauchte unaufgefordert vor meinem inneren Auge auf: eine Flasche Wodka am Boden meines Spinds. Sie gehörte Tyler. Manchmal sah ich sie frech unter seinem Stapel Ramsch hervorlugen. Wenn es je einen Tag gab, an dem ich ein, zwei Schlucke stibitzen wollte, dann war es dieser. Außer den paar Schlucken Weißwein und Miller Lite, die mir meine Mutter beziehungsweise mein Vater gegeben hatte (und der Bierspucke in der Bowlinghalle), hatte ich nur ein einziges Mal größere Mengen Alkohol getrunken, und das wurde dann eines meiner schlimmsten Erlebnisse. Auf die Idee, von Tylers geheimem Schnapsvorrat zu trinken, war ich noch nie gekommen, und dass ich überhaupt darauf verfiel, überraschte mich selbst am allermeisten. Doch nach meinem eigenen Spring Break und [47]  nachdem ich all das über Chloes Spring Break gehört hatte, war einem kleinen, aber nicht unerheblichem Teil von mir alles egal.
    Es klingelte pünktlich (wenigstens darauf konnte man sich verlassen), und wir verließen den Raum, vorbei an Mr.   Runnels, der mit dem Rücken zu uns weiterhin die Wandtafel vollschrieb und sich jetzt wahrscheinlich überlegte, wie er seine nächste Klasse unterhalten konnte.
    Mochten die Flure auch noch so lang und breit sein, sie waren mit den zweitausend Neunt- bis Zwölftklässlern dennoch überfüllt. Und sie waren der Schauplatz vieler meiner Alpträume, in denen immer der erste Schultag vorkam und in denen sich die Flure in ein sich fortlaufend änderndes Labyrinth verwandelten, in dem ich mich hoffnungslos verirrte – und in dem mir meist irgendwer auflauerte, um mich umzubringen.
    Meine Bauchschmerzen kamen und gingen in Wellen, und ein heißes Kribbeln verriet mir, dass ich vermutlich bald meine Eingeweide würde leeren müssen – was mir in der Schule noch nie passiert war. Vielleicht konnte ich ja an mich halten. Oder vielleicht würde Alkohol meine Nerven beruhigen und den Magen

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