Ich gegen Osborne
Trinkens eine gewisse Bedeutung verliehen. Jede Wette, dass in Panama City während des Spring Break kein einziger Trinkspruch ausgebracht worden war.
Wer weiß, vielleicht würde ich ja eines Tages wegen meiner Trinksprüche Berühmtheit erlangen: »Oh, da kommt der wie üblich sinnlos besoffene Schriftsteller. Aber was hat er doch für tolle Trinksprüche auf Lager!« Ich überlegte, wie mein Trinkspruch wohl lauten sollte. Auf Chloe? Auf das Aufgeben? Ich entschied mich für einen, den ich in dem Film Die Tage des Weines und der Rosen gehört hatte: »Gemeinsam im Himmel.« Ich konnte mir keinen netteren Trinkspruch vorstellen, und so sagte sprach ich ihn leise vor mich hin, während ich die Flasche unauffällig Richtung F. Scott erhob.
[51] Doch die Worte mussten einen Kloß in meinem Hals überwinden. Ich schraubte den Deckel wieder zu, ohne einen Tropfen getrunken zu haben, und vergrub die Flasche wieder unter Tylers Sachen. Dann holte ich mein Chemiebuch heraus und das dazugehörige Notizbuch samt Mappe, außerdem mein Deutschheft, und knallte den Spind zu.
Das Problem in Osborne war, dass alle immer nur das taten, was ihrer Meinung nach von ihnen erwartet wurde. So kam ich auf dem Weg zum Chemiekurs an einem Skater vorbei, auf dessen T-Shirt der Name einer obskuren Band stand (Operation Ivy?), weil diese Sorte Band unter seinesgleichen gerade in war. Als Nächstes passierte ich Lavell Pritchard, einen grüblerischen schwarzen Jungen, mit dem ich die Grundschule besucht hatte, der aber nie ein Wort mit mir wechselte, weil ein junger Schwarzer aus seiner Wohngegend taff und schweigsam zu sein hatte.
Ich begrüßte ihn lächelnd wie jeden Tag mit »Hallo, Lavell«, obwohl ich jeden Tag nur ein Stirnrunzeln oder ein knappes Nicken erntete, das heute besonders knapp ausfiel.
Ich weigerte mich, einem Klischee zu entsprechen, doch ein alkoholsüchtiger sensibler junger Schriftsteller war so was von klischeehaft, dass ich mich schämte, es auch nur erwogen zu haben.
Mir war immer noch übel, als ich durch den 100er-Flur ging. Ich schärfte mir ein, nicht an Chloes Spring Break zu denken, und rief mir auch einen Gedanken – eigentlich eher ein Mantra – in Erinnerung, der in den letzten vier Jahren für meinen Alltag enorm wichtig gewesen war.
Das sind nicht die besten Jahre deines Lebens. Nicht die Highschool ist mein Ding, sondern die Zukunft.
[52] Ich glaubte, dass ich irgendwann im Rückblick die Highschoolzeit als eine längere unangenehme Phase sehen würde, die ich ertragen musste, ehe mir das gute Leben winkte. Klar, ich hatte mir Miss Gummere als Teil dieses guten Lebens vorgestellt, doch das ließ sich korrigieren. Die Highschool war lediglich eine Art Wartesaal, in dem ich eine Zeitlang warten musste. Zugegeben, hier lechzte ich nach der Zukunft, während ich mich noch wenige Minuten zuvor nach der Vergangenheit gesehnt hatte. Beides war besser als das hier. Ich war in einer Art pickliger Vorhölle gefangen und hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben, meine Jugend könnte für mich etwas anderes als Enttäuschungen bereithalten. Was Chloe getan hatte – und ganz ehrlich, natürlich hatte sie all das getan –, hätte keine so große Überraschung sein dürfen. Warum hatte ich das nicht umgehend akzeptiert? Nicht die Highschool ist mein Ding, sondern die Zukunft.
Allmählich verlor ich die Geduld.
[53] Chemie
8 . 25 Offenbar war es für mich das Beste, asexuell zu werden. Ich hatte mit dieser Idee schon die letzten beiden Male gespielt, als mich ein Mädchen enttäuscht hatte, jedes Mal bei einer melodramatischen Variante von unerwiderter Liebe. Meine plötzliche Chloe-Verdrossenheit ließ diese Idee attraktiver denn je erscheinen. Es war eine verlockende Vorstellung, sich der keimdrüseninduzierten »Liebes«-Hysterie auf Osborne High zu entziehen. Was Chloe oder sonst wer taten, konnte ich nicht kontrollieren. Die jugendlichen Stringtangas der Mädchen konnten meinetwegen verrotten. Doch ich konnte mich kontrollieren. Und so saß ich in der letzten Reihe von Ms. Calaways Klassenraum und verkündete stumm:
Von diesem Augenblick an bin ich asexuell.
Mein Rückzug aus dem uralten Konkurrenzkampf ums nackte Fleisch sollte bald heftig in Frage gestellt werden, doch zumindest vorerst konnte ich das triumphale Gefühl genießen, dass ich mich der Großen Dummen Rumhurerei entzogen hatte. Ich stellte mir vor, wie sofort ein schweres Gewicht aus meiner Hose verschwand und sich mein
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