Ich gegen Osborne
hin? Schnappt sie sich irgendein anderer Kerl und gibt sie erfolgreich aus? Baut sie sich nach und nach in meinem Inneren auf wie verkalkte Arterien oder Ablagerungen im Gehirn? Wird sie schlecht wie irgendein Obst, das keiner gegessen hat? Das muss es sein. Die Nichterfüllung sammelt sich am Boden des Auswuchses, wo sie langsam verfault, bis sie schließlich eines Tages als böse erkannt wird.
Ja, mir fielen mehrere Stellen ein, wo diese unerwiderte Liebe enden könnte.
Ich sah Timothy an, dessen Gesicht praktisch immer noch in seiner Arbeit steckte, und ein abscheulicher Gedanke huschte mir durchs Hirn: in Ordnung, du seltsamer Mistkerl. Ich mache mit. Was auch immer du mit ihnen vorhast, ich werde dir helfen.
[398] Damit machte ich mir selbst Angst. Entsetzliche Bilder kamen mir in den Sinn. Wenn meine Gedanken und Gefühle hätten Gestalt annehmen können, hätten sie wie schlaffe Knubbel elektrisch geladenen Knorpels ausgesehen. Als ich Chloe betrachtete und den Riss in meinem Anzug befingerte, beschleunigte sich mein Herzschlag, und alles klang lauter als normal. Dass alle auf ihrem Schabekarton kratzten, klang wie Ratten, die versuchten, sich einen Weg durch meinen Hinterkopf zu wühlen. Vielleicht endete dieser Tag damit, dass ich in einer Zwangsjacke steckte und mit blutunterlaufenen Augen und wirrem Haar in eine Nervenklinik geschafft wurde, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob man die heute noch so nannte.
»Ich habe nicht mal geweint«, sagte ich, weil ich dachte, Reden könnte meinen Gedankengang normalisieren, und teilweise hatte ich Recht. »Was stimmt nicht mit mir, dass ich nicht mal geweint habe?«
Tommy zuckte mit den Achseln.
»War schön, mit dir zu reden«, sagte ich.
»Was willst du denn von mir hören?«
»Weiß auch nicht.«
»Sollen wir diesen Sommer zusammen abhängen?«
»Wie kommst du darauf ?«
»Keine Ahnung. Vielleicht kommst du dann eher auf andere Gedanken.«
»Du willst doch nur mit mir abhängen, weil ich dir leidtue.«
»Nein! Ich hab’s echt satt, die ganze Zeit Party zu machen und, na ja, mich in unangenehme Situationen zu bringen. Dieses Jahr bin ich schon zweimal fast gestorben. Und [399] ich weiß, dass du nicht gern Party machst, und dann seh ich dich an und denke: Tja, James macht nicht Party, aber cool isser trotzdem.«
»Ich bin nicht cool, trotzdem danke für das Kompliment.«
» Klar bist du cool. Was du mit dem Ball angestellt hast, war mit das Coolste überhaupt, und es hat bei mir zu der Überlegung geführt, ich könnte vielleicht cool sein, ohne dass ich es, na ja, die ganze Zeit versuche – oder wie soll ich sagen? Die Leute dröhnen sich doch nur deshalb zu, weil es ihnen beim Bumsen hilft. Und ich bin’s leid. Lass uns diesen Sommer einfach abhängen.«
»In Ordnung. Und danke.«
Wir schwiegen beide. Ich fühlte mich immer noch zittrig, doch mein Herzschlag wurde langsamer, und der Lärm um uns herum ließ etwas nach. Tommy hatte es irgendwie geschafft, dass ich mich besser fühlte, wieder als ganzer Mensch, als wäre nach diesem grauenhaften Tag endlich der Vorhang gefallen.
Ich betrachtete eine Collage von Zwölftklässlerfotos, die Mr. Ottman auf eine Korkpinnwand gepappt hatte. Es waren seine ehemaligen Schüler. Dann sah ich auf die Uhr. In sechzehn Minuten durfte ich nach Hause.
Während ich weiterarbeitete, spürte ich die unverkennbaren Symptome einer leichten nahenden Erkältung. Hinter meinem Gesicht kribbelte es, und jedes Schlucken wurde von einem dumpfen Schmerz begleitet. Zwanghaft schluckte ich immer und immer wieder, wollte herausfinden, wie weh es wirklich tat. Ich war froh, dass Tommy mir eine Frage stellte, damit ich endlich aufhören konnte.
[400] »Was machst du diesen Sommer?«
»Ich möchte schreiben, hauptsächlich. Da ist es sogar von Vorteil, wenn man keine Freundin hat. Niemand stört mich beim Schreiben. Und du?«
»Nichts. Ich werde wohl an meinem Comedy-Programm feilen.«
»Wenn wir in diesem Sommer wirklich was zusammen machen, was würdest du gern tun?«
»Weiß nicht. Mich über Leute lustig machen?«
»Das klingt doch ganz gut. Vielleicht im Einkaufszentrum?«
»Klar. Ich ruf dich an.«
»In Ordnung. Ich bin der einzige Weinbach im Telefonbuch.«
Kaum hatte ich das gesagt, bereute ich es schon, weil Timothy es hätte hören können. Ich schaute zu ihm hinüber, und tatsächlich sah er mich an und nickte, das eine Auge von seinen strähnigen schwarzen Haaren verdeckt.
»Ich geh dann mal
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