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Ich gegen Osborne

Ich gegen Osborne

Titel: Ich gegen Osborne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joey Goebel
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wohl an meinen Tisch zurück.«
    15 . 00   Als ich mich setzte, warf Chloe mir einen bekümmerten Blick zu und sah dabei bezaubernder aus denn je. »Schenk uns ein Lächeln«, sagte ich. Sie schenkte mir ein Lächeln, und ich hätte sie am liebsten gleichzeitig küssen und erdrosseln mögen. Dann tadelte ich mich selbst, weil ich jemanden erdrosseln wollte. Gern wäre ich ihr mit den Fingern durchs Haar gefahren, ließ es aber natürlich sein.
    Obwohl es noch zu früh war, begannen einige Schüler ihre Arbeiten im Schrank zu verstauen, als würde es dadurch schneller Viertel nach drei. Ich hörte die ersten [401]  Autoschlüssel klappern und Rucksackreißverschlüsse, und die Schüler redeten so laut, dass ich das Radio kaum hörte. Gerade lief Lou Rawls’ You’ll Never Find Another Love Like Mine, was ich am liebsten voll aufgedreht hätte.
    »Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass die Stunde noch nicht zu Ende ist«, sagte Mr.   Ottman.
    »Ich bin aber mit meiner Arbeit fertig.«
    »Ich auch.«
    Einige konnten nicht mehr stillsitzen und schlurften ziellos wie Penner zwischen den Pulten herum. Doch die Leute an meinem Tisch, dieses wackere Grüppchen, arbeiteten weiter, so dass ich unmöglich mit Timothy über seine Pläne reden konnte. Und doch wollte ich ihm sagen, dass mich nichts dazu bringen würde, irgendwem Leid zuzufügen, und es auch von ihm nicht dulden würde. Niemand hatte das verdient. So müde ich auch war, fand ich doch, das müsse jetzt gleich geklärt werden.
    »Hör mal, Chloe, du hast doch vorhin gefragt, warum ich den Ball absagen ließ.«
    »Ja, aber du musst dich nicht rechtfertigen.«
    »Das will ich aber. Ich muss darüber reden. Zunächst einmal hatte ich das nicht vorher geplant. Es gab kein großes Projekt. Es ist einfach passiert. Ich will – genauer, ich kann – nicht in die Details gehen –, doch so unwahrscheinlich es klingt, ich hab’s fertiggebracht, Mr.   Shankly zu überreden, den Ball abzusagen. Ich hätte nicht im Traum gedacht, dass er es wirklich tun würde. Stimmt, es war natürlich ein Akt der Rebellion, und auf diesen Aspekt bin ich wirklich stolz. Aber vor allem bin ich stolz, dass es eine intellektuelle Rebellion war. Ich habe Wissen benutzt, um [402]  sie durchzuführen, keine Waffen. Und niemand ist dabei körperlich zu Schaden gekommen.«
    »Ich weiß«, sagte Chloe.
    »Ich weiß, dass du es weißt, aber lass es mich fertig erklären. Ich bin nicht stolz darauf, dass Menschen emotional verletzt wurden. Ich dachte, ich wollte Menschen verletzen, doch glaub mir, es ist kein gutes Gefühl, Menschen traurig zu machen. Und heute habe ich viele Menschen traurig gemacht, viele Schüler und sogar den Rektor. Ich mag Mr.   Shankly nicht, aber ich habe ihn so in Verlegenheit gebracht, dass er früher weggegangen ist, und ich jetzt nicht weiß, wo er ist oder wie es ihm geht, und ob ich mir den Rest des Tages um ihn Sorgen machen muss. Ich habe also herausgefunden, dass ich viel lieber Opfer als Täter sein möchte.«
    Timothy sah nicht auf, und darum wusste ich nicht, ob er zuhörte oder nicht. Trotzdem musste ich Chloe gegenüber noch deutlicher werden.
    »Ich hätte es nicht tun sollen. Es hat mir für mein Leben nicht wirklich was gebracht. Ich fühlte mich dadurch nicht besser. Also gut, vielleicht habe ich mich danach ein, zwei Minuten besser gefühlt, doch letzten Endes hat es mir nur Kummer gebracht. Es war ein Fehler. Und auch wenn es ein Akt der Rebellion oder ein Akt der Zerstörung war oder wie man es sonst nennen mag, so war es doch vor allem ein Akt der Gemeinheit… und der Verzweiflung. Ich kam mir vor, als würde ich heute von allen erdrückt, deshalb wollte ich sie auch erdrücken. Ich litt, darum sollten alle anderen auch leiden. Darauf läuft es letztlich hinaus. Ich war nichts als ein boshafter kleiner Spießer. Nichts daran ist cool. Und [403]  es stimmt, all die anderen Jugendlichen habe ich immer verachtet. In meinen Augen sind sie wie Kinder, und ich stelle mir vor, wie sie kaputtgehen, weil ihre Großeltern gestorben sind, obwohl sie ihre Großeltern nie besucht haben, als die noch lebten. Doch ich vergesse immer, dass alle genauso leiden wie ich. Nur dass sie stumm leiden. Nie erzählen wir, was uns am meisten belastet. Nichts fällt den Menschen so schwer, wie zu kommunizieren. Jugendlichen fällt es vielleicht noch schwerer. Wie George Orwell in 1984 geschrieben hat, es ist, als würden Enten quaken, und es fällt schwer, Mitgefühl für

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