Ich gegen Osborne
Leute zu entwickeln, die wie Enten quaken. Noch etwas. Eigentlich mag ich die Vorstellung nicht, dass ich andere mit meiner Tat inspiriere. Weißt du, Chloe, ich bin überhaupt nicht gern, wie ich bin. Ich mag es nicht, dass ich immer so überkritisch bin. Es ist anstrengend. Wenn ich überkritisch bin, fühle ich mich immer schlecht dabei. Ich will Menschen mögen. Das will ich mehr als alles andere, habe aber das Gefühl, als wollten die Menschen nicht von mir gemocht werden. Doch auf sie einzudreschen, es ihnen heimzuzahlen, das ist nicht die Lösung.«
»Was ist denn die Lösung?«, blaffte Timothy. Er hörte also zu. Wieder musterte er mich durchdringend, während ich überlegte, was um alles in der Welt ich darauf antworten sollte. Unter seinem bohrenden Blick sah ich zu Boden.
»Das«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf seinen Karton. »Diese ganze Energie, die ich heute vergeudet habe, indem ich herumgerannt bin und die Pläne anderer zunichtegemacht habe! Ich hätte sie gescheiter in meine Arbeit investiert. In meinem Fall in meinen Roman.«
Timothy spitzte die Lippen, und sein Blick sagte mir, wie [404] wenig er von mir hielt. »So. Ich hab mein Sprüchlein aufgesagt. Jetzt bin ich still.«
»Ich finde, du gehst zu hart mit dir ins Gericht«, sagte Chloe. »Mit deiner Aktion hast du vielen auch geholfen. Manche Leute hast du damit sogar glücklich gemacht.«
»Ja, aber wie du richtig sagst, sie werden mich immer im Gedächtnis behalten als den Typen, der ihnen ihren Abschlussball genommen hat. Das wird mein Vermächtnis sein.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Marleen.
Ich widmete mich wieder meinem Karton, und als ich einige der abgeschabten schwarzen Farbreste wegwischte, fiel mir auf, dass ich ein winziges Loch in den Karton gekratzt hatte. Chloe stand auf und sagte: »Fertig.« Sie hielt das Kratzbild ihres Hundes hoch, und Marleen und ich machten ihr wohlverdiente Komplimente. Chloe war im Zeichnen und Malen viel begabter als ich. Sie brachte ihr Werk zu Mr. Ottman an den Tisch, und als Marleen aufstand, um ihre Pepsi-light-Dose wegzuwerfen, hatte ich kurz Gelegenheit, mit Timothy zu sprechen.
»Ich weiß, es kommt einem so vor, als wären sie nichts als ein fieser, dummer Haufen von Huren, aber hör mir zu. Sie können nicht anders. Menschen haben viel mehr Möglichkeiten, ins Schlechte abzudriften, als es nicht zu tun. Doch es gibt immer noch gute Menschen auf der Welt. Du musst mir glauben. Ich weiß nicht, wo sie sind. Vielleicht gehen sie auf eine andere Schule oder sowas, aber eines Tages lernen wir vielleicht den einen oder anderen von ihnen kennen.« Chloe und Marleen kamen zurück an den Tisch. »Also egal, was du vorhast –«
[405] »James. Würdest du dich bitte abregen ?«
»Ich will nur nicht, dass du jemanden verletzt.«
»Stinkbomben. Ich wollte nur ein paar Stinkbomben werfen.«
15 . 07 Während ich weiterarbeitete, überlegte ich, was ich tun würde, wenn ich nach Hause kam, falls ich nicht wegen eines Zwischenfalls auf dem Parkplatz ins Krankenhaus musste. Als Erstes würde ich ins Bad gehen. Schon seit einigen Stunden hatte ich Urinstau und spürte, dass mein Magen durchaus wieder aufmucken könnte. Außerdem musste ich ein wenig Hämorrhoidensalbe auftragen, vielleicht auch meinen wunden Daumen verbinden und meine Mom fragen, was ich wegen der versengten Fingerspitzen unternehmen sollte. Ich würde auch meine Zehen untersuchen und mich vergewissern, dass sie nicht gebrochen waren. Dann würde ich mit meiner Mutter reden. Ich würde mir ein T-Shirt anziehen müssen, damit sie mein zerrissenes Jackett nicht sah. Ich würde Schuldgefühle haben, weil ich ihr die Ereignisse des Tages verschwieg, doch ich wollte sie nicht beunruhigen. Und mir war auch nicht danach, das Ganze noch einmal aufzuwärmen. Ich würde es ihr noch früh genug erzählen müssen, aber heute lieber nicht. Hoffentlich würde sie nicht erwähnen, dass sie von Osborne einen Falsch-verbunden-Anruf bekommen hatte. Nach unserem Gespräch würde ich eine »Lemon & Lime«-Limonade trinken (bei einer Erkältung muss man schließlich besonders viel trinken), meine Zimmertür schließen, das Licht ausknipsen und ins Bett gehen.
Ich beendete meine Radierung, zeigte sie aber keinem, [406] weil sie erbärmlich und mies war. Ich legte sie mit der Vorderseite nach unten auf Mr. Ottmans Tisch, während er einem anderen Schüler erklärte, der Unterricht sei bald zu Ende und es gebe keinen Grund, ihn
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