Ich gegen Osborne
nämlich die wunderliche Angewohnheit, sich das T-Shirt ganz von der Schulter zu ziehen, wenn er dachte, niemand sähe zu.
» Teufel, nein. Von dir will ich keinen Stift.«
»Mach mal ’n Punkt. Ich nehm dich doch nur auf ’n Arm.«
»Steck dir den Stift in den Arsch. Ich will den Stift nicht.«
Ich verdrehte die Augen, und Timothy feixte. »Wie gesagt, denk doch nur an all die Energie, die wir dem Abschlussball und Mädchen generell widmen. Hätte ich nicht mit diesen blöden Muschis rumgealbert, hätte ich schon zwei oder drei Romane schreiben können.«
Timothy reagierte überhaupt nicht. Er beobachtete einen Jungen, der so tat, als wäre eine Papierkugel ein Basketball und der Papierkorb ein Basketballkorb.
[60] »Bei Frauen ist man immer der Verlierer. Deshalb habe ich beschlossen, mich dem ganzen Quatsch zu entziehen. Ich habe einen neuen Lebensstil gefunden. Ich habe beschlossen, asexuell zu sein.«
Endlich nahm er Blickkontakt auf. »Was bedeutet, dass ich mich zu niemandem mehr hingezogen fühle. Der ganze Kummer wegen der Mädels – Schnee von gestern. Verdampft. Endlich bin ich frei. Timothy, du solltest dich mir anschließen. Möchtest du gern asexuell sein?«
»Nein.«
Zuerst lachte ich, dann lachte Timothy auch. Einen so normalen Moment wie diesen hatte es zwischen uns noch nie gegeben.
»Verstehe. Es ist nicht leicht, besonders wenn man nicht als Asexueller auf die Welt gekommen ist Ich war einmal ein fanatischer Hetero, aber mein Herz hält es einfach nicht mehr aus. Einem eigentlich heterosexuellen Asexuellen fällt es besonders schwer, dass er seine Libido nicht, nun ja, ausknipsen kann wie eine Lampe. Man muss sich bewusst dafür entscheiden, die Libido zu ignorieren. Aber wenn man diese Entscheidung erst einmal getroffen hat – und wie ich daran festhält –, dann ist man gegenüber anderen im Vorteil. Die anderen sind so versessen darauf, einander flachzulegen, dass sie ständig abgelenkt sind. Diese Ablenkungen fallen bei mir weg. Es ist ein Gefühl von Stärke.«
Ich verstummte, als Ms. Calaway eintrat. Auch die meisten anderen Gespräche verstummten. In ihrem flotten Hosenrock schritt sie zu ihrem Pult und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Offenbar hielten Kaffee und Zigaretten den Lebenswillen dieser Frau aufrecht. Auf ihrem Pult stand eine [61] eigene Kaffeemaschine. Laut Slim, meinem Lehrer für Kreatives Schreiben, lag das daran, dass die anderen Lehrer sich beschwert hatten, weil Ms. Calaway den ganzen Kaffee im Lehrerzimmer weggetrunken habe. Jetzt leerte sie in ihrem Kursraum Kanne um heiße Kanne, was mir gefiel, da der Duft den Raum heimeliger machte.
Vom Kaffeeduft abgesehen, unternahm Ms. Calaway nichts, um im Raum 103 eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Sie war vor allem wegen ihrer Fähigkeit berüchtigt, Schüler zum Weinen zu bringen. Wegen ihrer ruppigen Persönlichkeit mochten die meisten Schüler sie nicht, aber ich mochte sie. Wir kamen gut miteinander aus, wohl weil ich ein guter Schüler war, auch wenn mich die Naturwissenschaften überhaupt nicht interessierten. Dennoch machte ich mir Sorgen, wie sie reagieren würde, wenn ich auf die Toilette gehen wollte, sobald meine Eingeweide Probleme machten. Sogar eine so schlichte Frage wie die, ob man aufs Klo gehen dürfe, ließ diese Frau in die Luft gehen. Vermutlich war sie die ganze Zeit wütend, weil sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, dass sie wie Nathan Lane aussah und man nichts dagegen machen konnte.
Sie setzte sich, holte ihr blaues Zensurenbüchlein heraus, das alle Lehrer benutzen, und überprüfte die Anwesenheit. Während sie die Namen durchging, dachte ich, wie toll es wäre, wenn ich nie wieder neben einem Telefon warten, mich nie wieder über einen Pickel ärgern, nie wieder nach diesem grässlichen blauen Kombi Ausschau halten müsste. Als mein Name aufgerufen wurde, sagte ich besonders zuversichtlich »Hier«.
Dann ließ uns Ms. Calaway an ihr Pult treten, wo sie uns [62] eine Summenformel-Aufgabe aus der Zeit vor den Ferien zurückgab. Meinen Namen rief sie früh auf. Besorgt ging ich nach vorn, wo ich erfreut eine rote »97 A« auf meinem Paper sah. Als ich mich wieder setzte, entdeckte ich auf dem Boden eine Füllerkappe, hob sie auf und steckte sie vorne in meine Jacketttasche. Während die anderen Schüler ihre Papers holten, fiel mir auf, dass drei von ihnen – zwei Mädchen und ein Junge – unabhängig voneinander beim Aufstehen kurz an ihren Hemdschößen zogen, um
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