Ich gegen Osborne
Hals.
9 . 34 Eigentlich hieß er Steven Remus, doch seine Schüler benutzten nur seinen Spitznamen, den er sich wegen seiner Mick-Jagger-mäßigen Statur verdient hatte. Ich vergötterte ihn. Er war die Sorte Lehrer, dem man es recht machen [111] möchte, charismatisch, aber auf eine stille Art, und zwar so still, dass man seine einschüchternden zwei Meter Körpergröße vergaß. Er hatte einen grauen Bart, und seine Haare waren nie lang, sahen aber aus, als müssten sie dringend mal gestutzt werden. Wie die meisten Englischlehrer mochte er Bob Dylan, doch in seinem Fall war das kein pseudokünstlerisches Getue. Er war ein echter Exzentriker, dessen rustikaler Pick-up das unattraktivste Fahrzeug auf dem gesamten Parkplatz war. Für mich gehörte er einer aussterbenden Gattung an, die die amerikanische Gegenkultur in ihrer ehrlichsten Ausprägung verkörperte. Einmal hatte er an die Tafel geschrieben: »Ich bin aus der Zukunft, werde aber allmählich Vergangenheit.«
»Ein paar Bekanntmachungen«, sagte er mit einem Blick in seinen Kalender. Wir schenkten ihm unsere Aufmerksamkeit, weil die meisten von uns ihn mochten. Nur die mochten ihn nicht, denen er schlechte Noten gab, und diese schlechten Noten wurden häufig von Beleidigungen begleitet. Ein Mädchen behauptete, er habe zu ihr gesagt: »Sie schreiben wie jemand, der nicht liest.«
»Morgen Abend haben wir den poet laureate unseres Bundesstaats im Café zu Gast. Wer hingeht und mir auf einer Seite seine Beobachtungen mitteilt, bekommt Leistungspunkte.«
Es war nicht das erste Mal, dass Slim Punkte anbot, wenn man an einer Lesung teilnahm. Einmal im Monat veranstaltete er in einem Café der Innenstadt selbst eine Lesung – eines der wenigen Ereignisse, die mich aus meinem Zimmer lockten. Wie er mir gestand, waren die Leistungspunkte keine Vergünstigung für seine Schüler, sie sollten vielmehr [112] sicherstellen, dass das Publikum des anreisenden Schriftstellers groß genug war. Nicht selten hatten sich einige der besten Schriftsteller des Bundesstaats nach einer dreistündigen Anreise vor sechs Personen wiedergefunden.
Während Slim uns von dem poet laureate erzählte, stellte ich mir Chloe vor, wie sie in einer Toilettenkabine weinte, und verspürte dabei eine Mischung aus Triumph und Mitleid. Wieder ermahnte ich mich, sie zu vergessen und mich auf meine Zukunft zu konzentrieren. Die Zukunft gehörte mir – nicht Chloe –, und sie begann heute, in diesem Kurs, mit meiner, wie ich fand, ersten Veröffentlichung. Wenigstens einer Hand voll Mitschüler würde mein Text gewiss gefallen, und zwar denen, die sich selbst für Freidenker hielten. Die eine war ein Hippiemädchen, das nach Patschuli roch, Halsketten aus Hanf trug und all die anderen Dinge machte, die man von Hippies erwartete. Dann waren da noch zwei Rock-’n’-Roller. Den einen würden die meisten Leute einen »Freak« nennen, der sich mit seinem pockennarbigen Krötengesicht ohnehin nie anpassen würde, warum sollte er also nicht schwarzen Lippenstift und ein Hundehalsband tragen? Den anderen Rock-’n’-Roller könnte man als »Hipster« kategorisieren. In seinen Tom-Waits-T-Shirts und der zerrissenen Jeans sah er aus wie etwas, das man in einen U-Bahn-Zug stellen sollte, mit einem Gitarrenkasten daneben. Schließlich war da noch der einzige schwarze Schüler des Kurses, der einen beeindruckenden Afro hatte, wie ich ihn mir insgeheim zu gern wachsen lassen würde. Wie die meisten anderen männlichen Schwarzen auf Osborne umgab auch ihn eine gewisse Härte. Ich wusste seine enzyklopädischen Hip-Hop- [113] Kenntnisse zu schätzen, da so viele Menschen unseres Alters heutzutage anscheinend überhaupt nichts wussten.
Während Slim weiterredete, traf endlich Dannon McCall ein. Als unpünktlich verschrien zu sein war für einen Jungen, der manchmal eine ganze Woche lang die Schule schwänzte, eher unwichtig. Ich hatte gehört, er sei DJ und seine 28-jährige Freundin beschaffe ihm an Wochenenden Gigs bei Raves in Großstädten. Seine Coolness hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass irgendwann das Gerücht aufkam, er sei tot.
Dannon schien ein wirklich netter Kerl zu sein, doch sein ganzes Auftreten und Erscheinungsbild waren cool, und ich hegte unwillkürlich ein heftiges Misstrauen gegen alles Coole. Er sah aus, als hätte er zu den Beastie Boys gehören können, dieser weißen Rapgruppe, anscheinend der einzige Musik-Act, auf den sich alle Jugendlichen einigen konnten. (Ich
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