Ich gegen Osborne
da ich mir zwangsläufig um Chloe Sorgen machte. Sie wirkte kein bisschen verärgert. Dennoch hätte ich ihr gern zugeflüstert, dass es mir leid tat, aber es störte mich, wenn andere im Kurs flüsterten – besonders da sie gemäß meinem paranoiden Verstand unter Garantie über mich flüsterten.
Ich beschloss, etwas zu tun, was ich noch nie gemacht hatte: eine Notiz zu schreiben und sie einem Mitschüler weiterzureichen. Ich hatte jede Menge von Mitschülern verfasste Notizen gelesen, da unter dem Schülermüll, den ich vom Boden aufsammelte, häufig gefaltete Zettel lagen, die sie achtlos fallengelassen hatten. Ich hatte mich aber nie persönlich an dem Zeitvertreib des Notizenweitergebens beteiligt, da ich es zu kindisch fand.
Slim erzählte gerade Interessantes darüber, dass der Chef in dem A&P die Autorität, das System oder die Institutionen verkörpern könne, doch ich musste ihn komplett ausblenden und mir die perfekte Nachricht überlegen, die ich Chloe schreiben wollte. »Es tut mir leid«, würde nicht genügen.
Doch eine Minute verging, und mir wollte partout nichts einfallen. Auf einen Zettel schrieb ich: »Es tut mir sehr leid.« Das verstieß gegen eine von Slims Schreibregeln: Vermeiden Sie, »sehr« oder »wirklich« zu verwenden, weil [120] diese Wörter durch inflationären Gebrauch inhaltsleer geworden sind. Aber wie erwähnt, »Es tut mir leid« reichte nicht.
Ich vergewisserte mich, dass niemand mich beobachtete. Ich schob den Zettel Chloe hin. Sie warf einen Blick darauf und richtete ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf Slim, was mich irritierte. Wenn ich es recht bedachte, hätte sie mir »Es tut mir leid« schreiben müssen.
»Lassen Sie uns über Themen reden«, sagte Slim. »Mit welcher Thematik befasst sich › A&P ‹?« Es entstand eine lange Pause, in der wir auf unsere Exemplare der Geschichte starrten. »James?«
»Nun, die Teenangst wäre ein naheliegendes Thema.«
»Was noch?«
»Ich glaube, das Ende der Ritterlichkeit wäre ein Thema.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sammy gegen seinen Chef Stellung bezieht und sich damit, in seinen Augen, heldenhaft für die Mädchen einsetzt. Doch dann geht er hinaus auf den Parkplatz, und sie sind schon weg. Er wird also für seine Ritterlichkeit nicht belohnt. Ja, er wird sogar dafür bestraft.«
Slim hielt inne, man konnte ihn fast denken hören, und dann atmete er tief ein, als nehme er meine Idee auf. Dann atmete er rasch aus und gab dabei eine kurze Silbe von sich: »Gut.«
»Ich glaube nicht, dass Ritterlichkeit irgendwas damit zu tun hatte«, sagte Haley. »Ich glaube, er wollte sich einfach bei den Mädchen einschleimen.«
Zu Haley und mir gab es eine kurze, unangenehme Vorgeschichte. Als sie zu Beginn des Semesters ihren [121] selbstverfassten Text im Kurs verteilte, war der so schlecht, dass Slim keinen im Kurs dazu brachte, auch nur ein Wort darüber zu sagen. Und so trat ich auf den Plan und schaffte es mit einigen kreativen Kniffen, ihr Komplimente zu machen. Am selben Abend rief sie mich an. Wegen meiner Komplimente nahm sie an, dass ich sie mochte. Sie wollte mit mir ins Kino gehen, und zwar in Rugrats – Der Film. Sie war durch und durch bieder, und unsere einzige Verabredung zeigte, wie dröge sie sein konnte. Sogar ihre Träume waren uninteressant. Sie erzählte mir von einem Traum, in dem sie in einem Einkaufszentrum einen Pullover kaufte und zu Hause merkte, dass der Pulli zu klein war.
Als sie ein zweites Mal mit mir ausgehen wollte, lehnte ich so höflich wie möglich ab. Seitdem zeigte sie mir die kalte Schulter.
»Kein Widerspruch von mir«, sagte ich. »So oder so, nichts geht in Erfüllung. Für Sammy.«
»Na schön«, sagte Slim. »Um eine Verbindung zu Ihren selbstverfassten Texten herzustellen, Sie haben mich schon früher sagen hören, wie wichtig es ist, dass Ihre Hauptfigur bis zum Ende der Geschichte eine gewisse Veränderung erlebt, und das sehen wir in › A&P ‹, als Sammy ins Freie tritt und bemerkt, wie rauh die wirkliche Welt sein kann…«
Während Slim sprach, fiel mir auf, dass Chloe etwas unter meine Nachricht kritzelte. Ich fragte mich, warum sie mich nicht ansah. Wenn ich es recht bedachte, sah sie mich eigentlich nie viel an. Ich war immer derjenige, der sie ansah. Ich wünschte, ich könnte ihr Profil sehen.
»…und dann ist mir ein Problem in dieser Gruppe aufgefallen, nämlich dass etliche von Ihnen Ihre Texte damit [122] enden lassen, dass die Hauptfigur stirbt,
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