Ich geh jetzt in dein Karma rein
kommenden Tage. Das war neu für mich. Normalerweise vergab ich keine Termine an Freunde und Bekannte, doch das war erst der Anfang.
Dank der enormen Nachfrage fühlte ich mich bereits kurze Zeit später sicher und schaffte mir einen neuen Terminplaner mit größeren Blättern an. Kurz darauf legte ich nicht nur für Freunde und Bekannte gratis die Karten, sondern auch für deren Freunde, Nachbarn, Mütter, Cousinen, Friseure und so weiter und so fort. Mir machten die Beratungen Spaß, es war auch für mich spannend, fremden Menschen Dinge aus ihrem Leben zu erzählen. Es faszinierte mich, wenn die Ratsuchenden mit offenem Mund vor mir saßen und mich fragten, woher ich all das wusste. Ich sagte jedes Mal nur weise: »So liegt es in den Karten.«
Meine Beratungen sprachen sich herum wie ein Lauffeuer. Bald hielt ich sie sogar an Tischen von Fitness- und Sonnenstudios ab. Meine Feierabende waren bald verschwunden, und auch die Wochenenden wurden bald ausschließliche Kartenveranstaltungen. Die Leute ließen sich nicht ein Mal die Karten legen und das war’s – nein, weit gefehlt! Viele übliche Verdächtige saßen regelmäßig und oft mehrmals in der Woche an meinem Esstisch beziehungsweise im Fitnesscenter oder Sonnenstudio. Vor Mitternacht kam ich nur noch selten ins Bett. Nachts musste ich das Telefon ausstöpseln. Meine Kunden schliefen nicht, sondern zogen es vor, die halbe Nacht zu grübeln, irgendwann bei einem Astro-Sender anzurufen und später dann bei mir.
Ich gebe zu, ich war naiv. Als klar wurde, dass man mich nachts nicht mehr per Telefon erreichte, wurde die Kundschaft kreativ. Eines Nachts schreckte ich hoch, weil es an meiner Haustür Sturm klingelte. Ich rechnete mit Feuer im Treppenhaus, Todesfall in der Familie, Meteoriteneinschlag vor dem Bahnhof und geklautem Auto. Ich blinzelte durch den Spion, doch der Flur war dunkel. Es klingelte weiter. Dann nahm ich den Hörer von der Sprechanlage ab.
»Hallo?«, fragte ich zögerlich.
»Ach, da bist du ja endlich. Hier ist die Elke. Ich bin extra mit dem Nachtbus gekommen, weil ich dich auf deinem Telefon nicht erreicht habe«, meldete sich eine putzmuntere Stimme. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen. Es war nach drei Uhr, und unten stand Elke, die mit dem Nachtbus aus einer anderen Stadt zu mir gefahren war.
»Hallo Bianca? Bist du noch da?«, fragte Elke nervös.
»Äh, ja, ich bin noch da.« Ich rieb mir die Augen. »Es ist ziemlich spät, Elke. Genau genommen ist es mitten in der Nacht.«
»Ja, ich weiß. Ich wollte dich auch gar nicht stören.«
Wie bitte? Wie kann man jemanden, der kein Nachtschattengewächs war, um diese Uhrzeit bitteschön NICHT stören?
»Leider ist es wirklich dringend«, fuhr meine dauer-unglücklich verliebte Stammkundin Elke fort.
»Und das kann nicht bis morgen Abend warten?«, fragte ich und hoffte, dass Elke den Verstand wiedererlangte.
»Auf gar keinen Fall. Bis dahin ist es schon zu spät. Deswegen bin ich doch extra mit dem Nachtbus gekommen.«
Der Nachtbus erschien für sie das ausschlaggebende Argument. Bei mir zog eher die Tatsache, dass sie um diese Uhrzeit allein vor meiner Haustür stand. Mein schlechtes Gewissen siegte. »Okay, dann komm mal hoch.« Ich drückte auf den Summer und ließ sie hinein.
Elke blieb und ließ sich von mir die Karten legen, bis ich mich für die Arbeit fertig machen musste. Ich brachte sie sogar noch nach Hause, bevor ich ins Büro fuhr. Vor ihrer Haustür angekommen sagte Elke: »Danke, dass du mir geholfen hast. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
»Nichts zu danken«, entgegnete ich und winkte ihr noch zu, ehe ich wie ein Schlafwandler auf die Hauptstraße abbog. Auf der Arbeit fielen mir ständig die Augen zu, aber ich hielt durch und tröstete mich damit, dass dies eine absolute Ausnahme gewesen ist.
Ja, ich war ein blutiger Anfänger in der Esoterikbranche. Elke war an jenem Tag nämlich nicht untätig gewesen. Statt unser nächtliches Stelldichein für sich zu behalten, telefonierte sie mit Hinz und Kunz und rührte kräftig die Werbetrommel für meine Mondscheinberatung. Es sollte von da an immer häufiger des Nachts an meiner Tür klingeln, und irgendwann wurde ich regelmäßig von ein bis zwei Personen pro Nacht aufgesucht. Darunter auch Miriam, eine meiner besten Freundinnen, mit der ich früher jedes Wochenende die Clubs unsicher gemacht hatte. Mir fiel eines Tages auf, dass sich unsere Freundschaft seit meinem Kartenlegekurs komplett
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