Ich geh jetzt in dein Karma rein
Bretterdach schwitzten da fünf Kursteilnehmer, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Unsere Gruppe bestand aus vier Frauen und einem obligatorischen »Quotenmann«.
In der kurzen Vorstellungsrunde erfuhr ich, dass wir alle, bis auf eine Kursteilnehmerin, absolute Lenormand-Anfänger ohne Vorkenntnisse waren. Zu meiner Rechten saßen die Freundinnen Tina und Alex, die gerade ihr Abitur bestanden hatten, sichtlich unausgeschlafen von der letzten Partynacht. Beide waren ganz hervorragend darin, unter dem Tisch blind SMS zu tippen und dabei interessiert zur Kursleitung zu schauen. Links von mir hockte die grell geschminkte Doris, Jahrgang 1943, selbst ernannte Lenormand-Expertin und unübersehbar Dauergast im Solarium. Während ihrer Vorstellung rechtfertigte sie sich gefühlte zwanzig Mal dafür, dass sie sich ein Hobby gesucht hatte, weil ihr Mann schließlich von morgens bis abends beim Angeln war. Außerdem wiederholte sie mehrfach, dass die Karten niemals lügen und sie sich auf die Prognosen stets absolut verlassen konnte.
Neben Doris saß mit hängenden Schultern der Frühruheständler Günter, ein ehemaliger Telekom-Mitarbeiter und Schnauzbartträger, der mich an den damaligen Handballbundestrainer Heiner Brand erinnerte. Er war stolzer Besitzer einer (vermutlich aus Kunstleder bestehenden) Horst-Schlämmer-Herrenhandtasche. Günter redete nur das Nötigste, brummte mal fragend, mal zustimmend, und ließ unter seinen Hemdachseln dunkle Schweißflecken wachsen.
Lydia thronte am Kopfende und strahlte. Sie lachte oft und gern, wobei ihr üppiger Busen unter ihrem Ethno-Gewand auf und ab wippte. Nachdem auch sie sich kurz vorgestellt und uns erzählt hatte, dass sie bereits als kleines Kind von ihrer Oma die Kunst des Kartenlegens erlernen durfte, verteilte sie an uns die Kartendecks. Zunächst ging es an die Theorie und die Bedeutung der einzelnen Lenormand-Karten. Jede der 36 Orakelkarten war nummeriert und von einem anderen Motiv geziert. Eine Karte trug einen Hund, eine andere einen Reiter, dann war da eine mit Schlange, eine mit Sonne und so weiter. Zuerst übten wir das 8er-Legesystem, was auch »Die große Tafel« genannt wird. Um einen Gesamtüberblick für eine fragende Person zu bekommen, legten wir am Anfang jeweils vier Reihen mit acht Karten aus, und die restlichen vier Karten wurden unter die dritte bis sechste Karte der letzten Reihe platziert. Günter und Doris sahen sich mit großen Augen an und atmeten hörbar aus. Offensichtlich hatten Günter und auch Doris, die selbst ernannte Meisterin aller Karten, sich das Kartenlegen wesentlich einfacher vorgestellt. Anhand einer Probelegung führte Lydia uns Schritt für Schritt weiter in die Technik des Kartenlesens ein. Jetzt suchten wir nach der Hauptpersonenkarte, in unserem Fall die Karte Nummer 28, auf der ein Mann abgebildet war. Dann betrachteten wir die Karten der senkrechten Reihe, die für die Gegenwart standen beziehungsweise den Zeitraum eines Monats darstellten.
»Was könnt ihr denn zu dem Mann im Kartenbild sagen? Wie sieht seine aktuelle Gegenwartssituation aus?«, fragte Lydia. Ich schaute auf die Übungslegung. Unter dem Mann lagen das Herz, der Sarg, das Kreuz und der Turm. Ich konnte nicht wirklich eine Situation daraus erkennen und beschloss abzuwarten, was meine Mitstreiter dazu sagten.
»Das sieht aber gar nicht gut aus«, bemerkte Doris und zog ihre Stirn in Falten.
»Aha? Was erkennst du denn im Kartenbild? Erklärst du es uns?«
»Ich erkenne ganz eindeutig, dass der Mann an einem Herzinfarkt gestorben ist.«
»Woran genau machst du das fest?«
»Ich mache es daran fest, dass unter dem Mann das Herz mit dem Sarg und dem Kreuz liegt. Übersetzt heißt das für mich Herzinfarkt, und der Turm ist eine Blockade, an der das Leben nicht weitergeht.«
»Das ist wirklich eine interessante Interpretation«, nickte Lydia. »Aber Gott sei Dank ist sie nicht richtig. Bei einem Herzinfarkt müsste auf jeden Fall der Baum dabei liegen. Der Baum steht für die Gesundheit, und er liegt hier nicht in der Nähe der Gegenwartslinie, sondern ganz außen. Das Herz und der Sarg symbolisieren eher, dass eine Herzensangelegenheit ihr Ende gefunden hat, ein schicksalhaftes Ende, wie das Kreuz uns anzeigt.«
Ich war fasziniert und erstaunt, wie Lydia zu diesen Aussagen gelangt war und wie es sein konnte, dass Doris etwas komplett anderes aus den Karten gelesen hatte. Vielleicht war Doris mit der Methode doch noch nicht so gut
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