Ich gehoere zu dir
hastig aus dem Wagen sprang, landete ich ungeschickt auf dem Boden. Wir befanden uns auf einem Feldweg. Zu beiden Seiten wogte hohes Gras im hellen Sonnenschein. Der Straßenstaub stieg mir in die Nase und legte sich auf meine Zunge. Ich hob das Bein und sah Victor unsicher an. Was würde als Nächstes geschehen?
Victor stieg wieder in den Wagen und ließ den Motor aufheulen. Verwirrt beobachtete ich, wie die Reifen den Schotter aufwirbelten, als er wendete. Er ließ das Seitenfenster herunter.
»Du solltest mir dankbar sein«, sagte er. »Du bist frei. Lauf und fange ein paar Kaninchen oder so.« Er grinste mich an, fuhr davon und ließ nichts als eine große Staubwolke zurück.
Völlig verblüfft schaute ich ihm nach. Was für ein Spiel war das? Zögerlich folgte ich dem Wagen, was zunächst ganz einfach war, weil er viel Staub aufwirbelte, der mir den Weg wies.
Aus jahrelanger Such-Erfahrung wusste ich jedoch, dass ich Victors Spur bald verlieren würde, denn er fuhr sehr schnell. Auch ich steigerte also das Tempo. Der Staub hatte sich gelegt, stattdessen folgte ich nun den Gerüchen aus dem Kofferraum, die ich lange genug eingeatmet hatte, um sie mir einzuprägen.
An einer asphaltierten Straße war der Wagen abgebogen, und ich folgte seiner Spur. Aber als diese Straße dann zu einer anderen führte, auf der die Autos mit ungeheurer Geschwindigkeit an mir vorbeirauschten, wusste ich, dass ich keine Chance mehr hatte. Viele Fahrzeuge rasten vorüber, und alle rochen ganz ähnlich wie Victors, so dass es unmöglich war, den einen Geruch herauszufiltern, hinter dem ich her war.
Die Autobahn machte mir Angst, und ich lief zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, verfolgte ich Victors Spur in umgekehrter Richtung, aber auch sie verlor sich in der leichten Abendbrise langsam. Ich überquerte den Feldweg, wo Victor mich ausgesetzt hatte, und wanderte ziellos weiter geradeaus, die Straße entlang.
Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter mir beigebracht hatte, das Gatter zu öffnen, und wie ich geflohen war. Damals war es mir wie ein riesengroßes Abenteuer vorgekommen, einfach auf und davon zu laufen, und ich hatte mich frei und wunderbar lebendig gefühlt. Dann hatte mich der Mann aufgelesen und mich Stromer genannt, und anschließend war Mom gekommen und hatte mich zu Ethan gebracht.
Jetzt war alles ganz anders. Ich fühlte mich kein bisschen frei und auch nicht wunderbar lebendig. Im Gegenteil: Ich hatte ein schlechtes Gewissen und war traurig. Ich kannte weder Richtung noch Ziel. Ich wusste, dass ich nicht nach Hause finden würde. Es war wie an dem Tag, als der Colonel mich weggegeben und Derek mich zu Wendi gebracht hatte. Obwohl der Colonel nichts für mich empfunden hatte, war es doch ein Abschied gewesen. Und Victor hatte gerade das Gleiche getan, nur dass er mich keinem neuen Besitzer übergeben hatte.
Vor Staub und Hitze hechelte ich wie wild, und ich hatte großen Durst. Als ich in der Ferne Wasser witterte, war es die natürlichste Sache der Welt für mich, die Richtung zu ändern und darauf zuzulaufen. Ich verließ also die Straße und wanderte durch hohes Gras, das im Wind wogte.
Der Wassergeruch wurde stärker und immer verlockender. Ich musste ein Wäldchen durchqueren und dann eine steile Böschung zu einem Fluss hinabsteigen. Dann watete ich bis zur Brust in das kühle Nass und schleckte es begierig auf. Was für eine Wohltat!
Da ich nun nicht mehr von Durst geplagt war, hatte ich den Kopf frei, um mich näher umzusehen. Der Fluss duftete herrlich und befeuchtete meine Nase, und irgendwo im gurgelnden Wasser hörte ich in der Ferne eine Ente quaken, die sich über irgendwas fürchterlich aufzuregen schien.
Ich trottete am Ufer entlang und versank mit den Pfoten in dem feucht-weichen Boden, als mir schlagartig etwas klar wurde. Überrascht hob ich den Kopf und riss die Augen weit auf.
Ich wusste, wo ich war.
Achtundzwanzig
Vor langer, langer Zeit hatte ich schon einmal am Ufer dieses Flusses gestanden, vielleicht sogar an genau derselben Stelle, und zwar am Ende unserer langen Wanderung, die Flare, das dumme Pferd, verschuldet hatte, weil es Ethan abgeworfen hatte und davongerannt war. Der Geruch war eindeutig. Meine jahrelange Such-Arbeit hatte mich gelehrt, Gerüche zu unterscheiden und sie in meiner Erinnerung abzuspeichern. Deswegen erkannte ich den Ort mit absoluter Sicherheit wieder. Außerdem hatten wir Sommer, genau wie
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