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Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!

Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!

Titel: Ich glaube, der Fliesenleger ist tot! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Karnick
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Absteckungen des Vermessers in Augenschein zu nehmen. Das war nötig, weil ich den Fehler gemacht hatte, die Absteckungen am Spätnachmittag alleine anzusehen.
    Nachdem die Erdbaufirma die Baugrube ausgehoben hatte, war der Vermesser gekommen, um die Feineinmessung für das Fundament vorzunehmen. Feineinmessung bedeutet: Sämtliche Eckpunkte des Fundamentes werden in der Baugrube – auf den Zentimeter genau, in der richtigen Relation zu den Grundstücksgrenzen – positioniert und durch Holzpflöcke markiert.
    Als ich gestern Nachmittag auf dem Rückweg vom Büro beim Grundstück vorbeigeschaut hatte, hatte ich mich sehr gefreut, dass auf unserem Grundstück lauter große und kleinere, blau und gelb angesprühte Holzpflöcke in die Erde gesteckt worden waren: Als Bauherrin und Bauherr verinnerlicht man sehr schnell, dass es stets ein Grund zu großer Freude ist, wenn auf der Baustelle etwas passiert ist. Denn dass auf einer Baustelle etwas passiert, nur weil es passieren soll, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
    Andererseits hatte ich recht ratlos vor den vielen Holzpflöcken gestanden und nicht wirklich verstanden, was genau deren Positionierung mit dem Grundriss unseres Hauses zu tun haben könnte. Wie ich so dagestanden und versucht hatte, die Holzpflöcke zu verstehen, hatte sich mein mangelhaft ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen aufs Fruchtbarste mit meiner immer offensichtlicher werdenden Neigung zur Fantasie-Entgleisung gepaart. Ich hatte gegrübelt: Die blauen Pflöcke schienen das Fundament zu markieren, aber was sollten diese gelb gefärbten Pflöcke dort? Zeigten die etwa die Grundstücksgrenze an? Aber dann stünde das Haus ja mit einem viel geringeren Abstand als den amtlich vorgeschriebenen zwei Metern fünfzig, also viel zu dicht an der Grenze! Wir würden es wieder abreißen müssen, sobald das Bauamt dahinterkäme!
    »Kann es sein, dass der Vermesser sich vermessen hat?«, hatte ich meinen Mann mit meinen Sorgen belagert – aber erst, nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren: Sie sollten friedlich einschlafen können, unbeschwert von der Aussicht, dass unser noch gar nicht erbautes Haus ihnen vermutlich nur kurz ein Zuhause sein würde.
    »Quatsch«, hatte mein Mann gesagt. »Der Vermesser macht den ganzen Tag nichts anderes als Vermessen, und wir bauen nur ein popliges, rechteckiges Haus, keinen Flughafen.«
    Ich hatte nicht lockergelassen: »Vielleicht ist unser Grundstück kleiner als auf dem Flurplan eingezeichnet? Bitte, bitte, morgen fängt der Rohbau an, guck es dir vorher noch mal schnell an.«
    »Du kannst sonst wieder nicht schlafen, oder?«, hatte mein Mann gefragt. Fünf Minuten später zogen wir die Haustür hinter uns zu, um auf dem Fahrrad zum Grundstück zu radeln. Das Grundstück liegt laut Google Maps nur eineinhalb Kilometer von unserer Wohnung entfernt, sodass man tatsächlich »noch mal schnell« dorthin gehen, radeln oder fahren kann.
    Jörn dagegen baut mehr als zwanzig Kilometer entfernt von seiner Mietwohnung. Ich begann zu ahnen, was er meinte, als er sagte: »Verschon mich mit deinen Witzen, ich bin sehr müde, ich musste heute sehr früh aufstehen und vor der Arbeit noch mal zum Haus und den Dachdecker zusammenscheißen.« Kein Wunder, hatte ich gedacht, dass er immer dunkler werdende Ringe unter den Augen hat.
    Mein Mann führte mich mit der leuchtenden Taschenlampe in der Hand zwischen Erdhaufen auf der Baustelle herum und erläuterte mir die Bedeutung der Holzpflöcke: »Das hier ist die Ecke, wo der Hauseingang hinkommt, links ist die Ecke vom Arbeitszimmer. Und da hinten steht die zur Terrassenmauer verlängerte Wohnzimmerwand, und jetzt halt noch mal das Maßband, wir messen nach. Siehst du, es sind genau zweifünfzig Abstand bis zur Grenze. Alles klar?«
    Ich wollte ja nur sichergehen.
    Jetzt, am Morgen nach unserer Nachtwanderung, scheint das erste Mal seit Tagen die Sonne, Schäfchenwölkchen stehen am blauen Himmel, es weht ein leichter Wind, der Tag wirkt frisch und einladend – ein gutes Omen, denke ich. Beste Bedingungen für einen dynamischen Start in die Rohbauphase. Was ich sehe, als ich über unsere Baustellenzufahrt gehe, gefällt mir ausnehmend gut.
    Vor der Baugrube steht im Sonnenschein ein breiter, improvisierter Holztisch: zwei große Holzböcke, auf denen lange Holzplanken liegen. Vor dem Tisch steht, den Rücken zu mir gewandt, ein schlanker, leger-elegant gekleideter Mann, der sich mit durchgestreckten Armen und beiden

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