Ich hab dich im Gefühl
sonntagsmorgens manchmal aufgewacht ist, wenn sie im Wintergarten gespielt hat. Aber jetzt?
Er lauscht der Stille am anderen Ende der Leitung. Eis.
»Ich wollte nur kurz anrufen und fragen, ob du mir einen Korb mit Muffins geschickt hast.« Kaum ist die Frage aus seinem Mund, wird ihm klar, wie absurd dieser Anruf ist. Natürlich hat sie ihm nichts geschickt. Warum sollte sie?
»Wie bitte?«
»Ich habe heute im Büro einen Korb mit Muffins bekommen, zusammen mit einer Dankeskarte, aber es gab keinen Absender. Ich hab überlegt, ob du das vielleicht gewesen sein könntest.«
Jetzt klingt ihre Stimme amüsiert. Nein, nicht amüsiert, eher spöttisch. »Wofür sollte ich dir danken wollen, Justin?«
Eine einfache Frage, aber da er seine Exfrau ziemlich gut kennt, weiß er, dass darin wesentlich mehr mitschwingt. Und deshalb schnappt er den Köder, hängt am Haken, wird bitter und bekommt die Stimme, an die er sich gewöhnt hat im Lauf des Untergangs ihrer … na ja, im Lauf ihres gemeinsamen Untergangs. Sie lässt ihn zappeln.
»Oh«, antwortet er. »Vielleicht zwanzig Jahre Ehe. Eine Tochter, ein gutes Leben. Ein Dach über dem Kopf.« Er weiß, wie doof diese Bemerkung ist. Dass Jennifer vor ihm, nach ihm und überhaupt jederzeit auch ohne ihn ein Dach über dem Kopf hat, aber jetzt quillt es aus ihm heraus, und er kann und will es nicht aufhalten, denn er hat recht und sie nicht, und die Wut stachelt ihn bei jedem Wort noch mehr an, wie ein Jockey, der sein Pferd über die Ziellinie peitscht. »Reisen in alle Welt.« Die Peitsche knallt. »Klamotten, Klamotten und noch mal Klamotten.« Die Peitsche knallt. »Eine neue Küche, die wir überhaupt nicht brauchten, ein Wintergarten, Herrgott …« Und so macht er weiter, wie ein Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert, der seiner Frau ein gutes Leben ermöglicht hat, das sie sonst nicht hätte haben können. Dabei ignoriert er völlig, dass Jennifer selbst ganz gut verdient und in einem Orchester gespielt hat, das um die Welt getourt ist. Und dass er sie dabei manchmal begleiten durfte – nicht umgekehrt.
Zu Beginn ihrer Ehe hatten sie keine andere Wahl gehabt, als bei Justins Mutter zu wohnen. Sie waren jung und hatten ein Baby – der Grund für ihre etwas überstürzte Heirat –, und da Justin tagsüber noch aufs College ging, abends in der Kneipe jobbte und am Wochenende im Museum, hatte Jennifer in einem schicken Restaurant in Chicago mit Klavierspielen Geld verdient. Am Wochenende kam sie erst in den frühen Morgenstunden heim, mit schmerzendem Rücken und einer Sehnenentzündung im Mittelfinger, aber das ist alles aus Justins Gedächtnis verschwunden, als sie ihm den Köder mit dieser scheinbar harmlosen Frage hingehalten hat. Sie hat gewusst, dass diese Tirade kommen würde, und er kaut wie ein Wilder auf dem Köder herum, der seinen ganzen Mund ausfüllt. Als ihm schließlich nichts mehr einfällt, was sie in den letzten zwanzig Jahren zusammen gemacht haben, und ihm der Dampf ausgeht, hält er inne.
Jennifer schweigt.
»Jennifer?«
»Ja, Justin.« Eisig.
Mit einem Seufzer der Erschöpfung fragt er noch einmal: »Und, warst du es?«
»Nein, das muss wohl eine von deinen anderen Frauen gewesen sein, denn ich hab dir ganz bestimmt keine Muffins geschickt.«
Klick. Weg ist sie.
Wieder kocht die Wut in ihm hoch. Andere Frauen.
Andere Frauen! Eine einzige
Affäre mit zwanzig, ein Fummeln im Dunkeln mit Mary-Beth Dursoa!
Bevor
er Jennifer geheiratet hat! Und jetzt tut sie so, als wäre er Don Juan persönlich. In ihrem Schlafzimmer hat er damals einen Druck von
Der Tod der Procris
von Piero di Cosimo aufgehängt. Jennifer hat das Bild immer gehasst, aber Justin hoffte trotzdem, ihr damit eine subtile Botschaft zu übermitteln. Auf dem Gemälde liegt nämlich ein halb nacktes Mädchen am Boden, und auf den ersten Blick sieht es aus, als würde sie schlafen, aber dann bemerkt man, dass Blut aus ihrer Kehle rinnt. Neben ihr sitzt ein trauernder Satyr. Justin folgt der Lesart, dass die Frau auf dem Bild ihren Mann der Untreue verdächtigt hat und ihm in den Wald nachgeschlichen ist. In Wirklichkeit wollte er aber nur auf die Jagd gehen, und als es in den Bäumen raschelt, denkt er, es sei ein Tier, und erschießt seine Frau. In ihren finstersten Augenblicken, wenn sie sich besonders erbittert und wütend stritten und ihnen der Hals vom Schreien und Brüllen schon wehtat und Tränen in ihren Augen brannten, wenn ihnen das Herz vor Schmerz zu brechen
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