Ich hab dich im Gefühl
brüllt: »Du arrogantes kleines Arschloch!«
»Doris!« Al springt aus dem Sessel. Jedenfalls versucht er es.
Unterdessen weicht Justin vor der herannahenden Furie namens Doris zurück, denn die kommt mit aggressiven Schritten auf ihn zu und streckt ihre glitzernden Raubtierkrallen wie Dolche nach ihm aus.
»Hör mal zu, du dummer kleiner Mann. Ich habe die letzten zwei Wochen damit verbracht, in Bibliotheken und an Orten über dieses kleine Kellerloch zu forschen, von denen du noch nie was
gehört
hast. Ich war in finsteren, schäbigen Verliesen, in denen die Menschen riechen wie alte … wie alte Dinge eben.« Ihre Nasenflügel blähen sich, und ihre Stimme wird tiefer und drohender. »Ich habe jede historische Farbenbroschüre gekauft, die ich kriegen konnte, und die Farbe nach den Farbregeln des neunzehnten Jahrhunderts aufgetragen. Ich habe Leuten die Hand geschüttelt, auf deren Bekanntschaft nicht mal ich Wert gelegt hätte. Ich habe mir Bücher angesehen, die so alt waren, dass die Staubmilben sie mir persönlich vom Regal holen konnten, so riesig waren sie. Ich habe die Dulux-Farben so genau wie nur irgend möglich an die historischen Farben angepasst, ich war in Secondhand- und Thirdhandläden, ich war sogar in Antiquitätengeschäften und habe Möbel in so verkommenem Zustand gesehen, dass ich fast die Fürsorge geholt hätte. Ich habe sonderbare Kreaturen um Esstische kriechen sehen, ich habe auf so klapprigen Stühlen gesessen, dass ich den schwarzen Tod riechen konnte, an dem der letzte Mensch, der vor mir darauf saß, gestorben ist. Ich habe so viel Kiefernholz geschmirgelt, dass ich Splitter an Stellen habe, die du garantiert nicht besichtigen möchtest. Also.« Bei jedem Wort piekt sie ihn mit ihren Dolchnägeln in die Brust, bis er schließlich mit dem Rücken zur Wand steht. »Wag es nicht noch mal, mir zu sagen, dass das hier eine Nummer zu groß für mich ist.«
Dann räuspert sie sich ausgiebig und richtet sich kerzengerade auf. Die Wut in ihrer Stimme weicht einem Zittern, das ausdrückt, was für ein armes, verkanntes Wesen sie doch ist. »Aber trotz allem, was du gesagt hast, werde ich meine Arbeit zu Ende bringen. Ich werde mich nicht beirren lassen. Ich werde es tun, ob du willst oder nicht, und ich werde es für deinen Bruder tun, der nächsten Monat vielleicht schon tot ist, ohne dass es dich im Geringsten kümmert.«
»Tot?«, fragt Justin und sperrt die Augen auf.
Doch Doris hat bereits auf dem Absatz kehrtgemacht und stürmt in ihr Zimmer.
An der Tür wendet sie sich noch einmal um und streckt den Kopf ins andere Zimmer zurück. »Übrigens hätte ich die Tür zugeknallt, ganz laut, um zu zeigen, wie wütend ich bin, aber die Tür ist gerade draußen auf dem Hof, wo sie abgeschmirgelt und grundiert wird, bevor ich sie streiche …« Der besseren Wirkung halber macht sie eine kurze Kunstpause und faucht dann: »Und zwar in Elfenbeintraum!«
Dann verschwindet sie wieder, ohne Knall.
*
Ich trete nervös vor Justins Wohnung von einem Fuß auf den anderen. Soll ich auf die Klingel drücken? Oder einfach seinen Namen ins Zimmer rufen? Ob er wohl die Polizei alarmieren und mich wegen unbefugten Betretens festnehmen lassen würde? Ach, wahrscheinlich war das Ganze eine blöde Idee. Frankie und Kate haben mich überredet herzukommen und mich ihm vorzustellen. Sie haben mich so weit gebracht, dass ich ins erstbeste Taxi zum Trafalgar Square gesprungen bin, um ihn in der National Gallery abzupassen. Ich war ganz in seiner Nähe, als er telefoniert hat, ich habe gehört, wie er nachgeforscht hat, wer ihm das Körbchen geschickt haben könnte. Sonderbarerweise habe ich mich sehr wohl dabei gefühlt, ihn einfach zu beobachten, ohne sein Wissen, und ich konnte die Augen keine Sekunde von ihm abwenden. Es war aufregend, ihn so heimlich sehen zu können als den, der er jetzt ist, statt sein Leben aus der Erinnerungsperspektive zu betrachten.
Sein Ärger über seinen Gesprächspartner am Telefon – wahrscheinlich seine Exfrau mit den roten Haaren und den Sommersprossen – hat mich aber davon überzeugt, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war, mich ihm zu nähern, deshalb bin ich im gefolgt. Nur gefolgt, ich bin keine Stalkerin. Ich wollte all meinen Mut zusammennehmen und ihn ansprechen. Soll ich die Transfusion erwähnen? Hält er mich dann für verrückt oder wird er offen sein und mir zuhören? Oder noch besser – mir sogar glauben?
Aber in der U-Bahn war das
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