Ich hab dich im Gefühl
Timing dann auch wieder nicht richtig. Die Bahn war proppenvoll, es wurde gedrängelt und geschoben, ohne einander in die Augen zu sehen – kein guter Ort für erste Begegnungen und schon gar nicht für Gespräche über die potenzielle Intelligenz von Herzblut. Deshalb stehe ich jetzt hier, nachdem ich seine Straße auf und ab gegangen bin und mich gleichzeitig wie ein verknalltes Schulmädchen und doch wie eine Stalkerin gefühlt habe, und habe einen Plan. Aber der Plan wird wieder mal auf Eis gelegt, weil Justin und sein Bruder Al über etwas zu reden anfangen, was ich garantiert nicht hören soll – über ein Familiengeheimnis, das ich schon mehr als gut kenne.
Ich ziehe den Finger von der Klingel zurück, achte darauf, dass ich durch keins der Fenster gesehen werden kann, und warte ab.
Neunundzwanzig
Justin sieht seinen Bruder panisch an und schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um. Schließlich zieht er einen riesigen Farbeimer heran und lässt sich darauf nieder, ohne den Ring weißer Farbe darauf zu bemerken.
»Al, was hat sie damit gemeint? Was soll das denn heißen, du bist nächsten Monat tot?«
»Nein, nein!«, lacht Al. »Sie hat nur gesagt, ich
könnte
tot sein. Das ist was ganz anderes. Hey, du bist ja noch glimpflich davongekommen, Bruderherz. Glück gehabt. Ich glaube, das Valium hilft ihr wirklich. Prost.« Er hebt die Flasche und nimmt den letzten Schluck.
»Warte, warte. Al, was redest du denn da? Gibt es irgendwas, was du mir nicht erzählt hast? Was hat der Arzt gesagt?«
»Der Arzt hat mir genau das gesagt, was ich dir die letzten zwei Wochen erzählt habe. Wenn direkte Familienmitglieder in jungen Jahren koronare Herzerkrankungen hatten – bei Männern heißt das, unter fünfundfünfzig –, na ja, dann hat man ein erhöhtes Risiko, selbst eine zu kriegen.«
»Hast du hohen Blutdruck?«
»Ein bisschen.«
»Hohe Cholesterinwerte?«
»Und wie.«
»Dann musst du einfach nur deinen Lebensstil ändern, Al. Es bedeutet doch nicht, dass du umfällst wie … wie …«
»Wie Dad?«
»Nein.« Kopfschüttelnd runzelt er die Stirn.
»Koronare Herzerkrankungen sind der Killer Nummer eins sowohl bei amerikanischen Männern als auch bei amerikanischen Frauen. Alle dreiunddreißig Sekunden erleidet ein Amerikaner ein sogenanntes koronares Ereignis, und fast jede Minute stirbt jemand daran.« Er schaut zur Standuhr ihrer Mutter, die halb von einer Plane verdeckt ist. Der Minutenzeiger bewegt sich. Al packt sich an die Brust und stöhnt. Aber bald verwandelt sich das Geräusch in Lachen.
Justin verdreht die Augen. »Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt?«
»Das steht in den Broschüren, die man in der Arztpraxis kriegt.«
»Al, du wirst keinen Herzanfall kriegen.«
»Ich werde nächste Woche vierzig.«
»Ja, das weiß ich.« Justin schlägt ihn spielerisch aufs Knie. »Wir machen eine große Party!«
»So alt war Dad, als er gestorben ist.« Mit gesenktem Blick klaubt er das Etikett von seiner Bierflasche.
»Geht es darum?«, fragt Justin sanfter. »Verdammt, Al, darum geht es die ganze Zeit? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich dachte einfach, ich möchte noch ’n bisschen Zeit mit dir verbringen, bevor, na ja, du weißt schon … für den Fall, dass …« Tränen schießen ihm in die Augen, und er sieht schnell weg.
Sag ihm die Wahrheit.
»Al, hör zu, ich muss dir etwas sagen.« Seine Stimme zittert, und er räuspert sich, in dem Versuch, sie unter Kontrolle zu bekommen.
Du hast es nie jemandem erzählt.
»Dad stand bei der Arbeit total unter Druck. Er hatte Schwierigkeiten, finanzieller und auch anderer Art, und das hat er nie jemandem erzählt. Nicht mal Mum.«
»Ich weiß, Justin. Ich weiß.«
»Du weißt es?«
»Ja, ich hab kapiert. Er ist nicht grundlos einfach so tot umgefallen. Er hatte Stress ohne Ende. Und den hab ich nicht, das weiß ich. Aber seit ich klein war, hatte ich das Gefühl, dass mir eines Tages das Gleiche passieren wird. Es geht mir durch den Kopf, seit ich denken kann, und jetzt, wo ich nächste Woche Geburtstag habe und nicht gerade in Topform bin … Im Geschäft war viel zu tun, und ich hab mich nicht um mich gekümmert. Das konnte ich nie so gut wie du.«
»Hey, das musst du mir nicht erklären.«
»Erinnerst du dich an den Tag, als wir mit ihm auf dem Rasen gespielt haben. Mit den Sprinklern? Nur ein paar Stunden bevor Mum ihn gefunden hat … Erinnerst du dich, wie die ganze Familie rumgetollt ist?«
»Das war eine schöne Zeit«,
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