Ich hab dich im Gefühl
drohte und ihre Köpfe fast platzten vom vielen Analysieren, dann betrachtete Justin manchmal das Gemälde und beneidete den Satyr.
Wutschnaubend rennt er die Stufen der North Terrace hinunter, setzt sich an einen der Brunnen, das Körbchen zu seinen Füßen, und beißt kräftig in einen Muffin, stopft ihn so schnell in sich rein, dass er kaum Zeit hat, ihn zu schmecken. Krümel fallen auf den Boden und ziehen einen Schwarm Tauben mit aufmerksamen schwarzen Knopfaugen an. Als er sich bückt, um sich einen weiteren Muffin zu nehmen, wird er umringt von den übereifrigen Tauben, die nach dem Inhalt des Körbchens picken. Pickpickpick – zu Dutzenden fliegen sie auf ihn zu, gehen in den Landeanflug wie Kampfjets. Da er sich vor eventuell herabfallenden Bomben der über ihm kreisenden Vögel fürchtet, nimmt er sein Körbchen und scheucht sie mit kindlicher Entschlossenheit weg.
Justin stürmt durch die Tür seiner Wohnung, lässt sie hinter sich offen und wird sofort von Doris begrüßt, die eine Malerpalette in der Hand hält.
»Okay, ich hab die Auswahl eingegrenzt«, ruft sie und hält ihm Dutzende Farben unter die Nase.
Jeder ihrer langen Nägel mit Leopardenmuster ist mit einem Strasssteinchen verziert. Heute trägt sie einen Overall in Schlangenlederoptik, und ihre Füße balancieren in Lackstiefelchen mit Pfennigabsatz. Ihre Haare sind der übliche rote Wuschelkopf, die Augen katzenartig mit einem Lidstrich ummalt, der aus den Augenwinkeln nach oben kurvt. Ihr passend zu den Haaren knallrot geschminkter Mund erinnert an Ronald McDonald. Irritiert sieht Justin zu, wie er sich öffnet und schließt.
Worte dringen an sein Ohr: »Stachelbeer, Keltischer Wald, Englischer Nebel und Waldlandperle, alles ruhige Töne, die in diesem Raum einfach toll aussehen würden, aber wir könnten es auch mit Wildpilz, Nomadenglut und Sultana Spice probieren. Zu meinen Favoriten gehört Cappuccino Candy, aber ich glaube, das funktioniert nicht mit dem Vorhang hier, was meinst du?«
Jetzt wedelt sie mit einem Stück Stoff vor seiner Nase herum und kitzelt ihn in der Nase. Das Kitzeln ist so heftig, als würde es schon die Auseinandersetzung spüren, die sich zusammenbraut. Justin antwortet nicht, sondern holt tief Luft und zählt in Gedanken bis zehn. Als das auch nichts bringt und Doris unverdrossen weiter Farbschattierungen runterbetet, erhöht er auf zwanzig.
»Hallo! Justin?«, sie schnippt mit den Fingern, direkt vor seinem Gesicht. »Hal-lo?«
»Vielleicht solltest du ihn mal ein bisschen verschnaufen lassen, Doris. Er sieht müde aus.« Al beäugt seinen Bruder nervös.
»Aber …«
»Pack deinen süßen Hintern hier rüber, Sultana Spice«, neckt er sie, und sie stößt einen Juchzer aus.
»Okay, nur noch eins. Bea wird ihr Zimmer in Elfenbeintraum garantiert lieben. Und Petey auch. Stell dir vor, wie romantisch das wird für …«
» DAS REICHT !«, schreit Justin aus voller Kehle, denn er hält es nicht aus, dass der Name seiner Tochter und das Wort romantisch im gleichen Satz vorkommen.
Doris zuckt heftig zusammen, verstummt augenblicklich und presst die Hand aufs Herz. Al hört auf zu trinken, die Flasche stoppt direkt vor seinen Lippen, und sein schwerer Atem macht seltsame Töne im Flaschenhals. Ansonsten herrscht völlige Stille.
»Doris«, sagt Justin schließlich, so ruhig er kann. »Das reicht mir jetzt wirklich. Genug Cappuccino Nights …«
»Cappuccino Candy«, korrigiert sie ihn, hält aber rasch wieder den Mund.
»Was auch immer. Das hier ist ein viktorianisches Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, kein Reihenhaus für
Einsatz in
4
Wänden
.« Er bemüht sich, seine Gefühle in Schach zu halten, die sich stellvertretend für das alte Gebäude verletzt fühlen.
Sie stößt ein beleidigtes Quietschen aus.
»Das Haus braucht eine behutsame Renovierung, gewissenhafte Recherche, es braucht Mobiliar aus der damaligen Zeit, entsprechende Farben – und keine, die klingen wie Als Lieblingsessen.«
»Hey!«, protestiert Al.
»Ich glaube, es braucht …«, beginnt Justin, holt tief Luft und fährt dann ruhiger fort: »… das Haus braucht einen anderen Inneneinrichter. Vielleicht ist das Projekt einfach anspruchsvoller, als du gedacht hast. Aber ich bin dankbar für deine Hilfe, wirklich. Bitte sag mir, dass du das verstehst.«
Doris nickt langsam, und Justin stößt einen Seufzer der Erleichterung aus.
Aber da fliegt auf einmal die Palette quer durchs Zimmer auf ihn zu, und Doris
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