Ich hab dich im Gefühl
aufgeregt. »Oder ein Bettelbrief. Manche von denen sind echt witzig. Von wem ist er, und wie viel wollen sie?« Sie kichert.
Wortlos kramt Justin die Karte aus dem Muffinkorb und hält die beiden Karten aneinander, so dass sich ein vollständiger Satz ergibt. Ein Frösteln durchläuft seinen Körper, als er die Worte liest.
Danke schön … dass du mir das Leben gerettet hast.
Dreißig
Mit angehaltenem Atem kaure ich im Müllcontainer, und mein Herz schlägt so schnell wie die Flügel eines Kolibris. Ich komme mir vor wie ein Kind beim Versteckspielen, heftige Aufregung wabert durch meinen Bauch. Oder wie ein Hund, der sich auf dem Rücken wälzt und seine Flöhe loskriegen will. Bitte finde mich jetzt nicht, Justin, nicht hier, nicht im Müllcontainer vor deinem Haus, voller Dreck und Gips und Staub. Ich höre, wie seine Schritte sich entfernen, die Treppe zu seinem Kellerapartment hinunter. Dann fällt die Tür ins Schloss.
Was ist bloß aus mir geworden? Ein Feigling! Ich hab gekniffen und schnell die Klingel gedrückt, als Justin seinem Bruder die Geschichte von seinem Vater erzählen wollte, und dann bin ich weggerannt, weil ich Angst hatte, für zwei Fremde Gott zu spielen, bin gerannt, gesprungen und auf dem Grund eines Müllcontainers gelandet. Wenn das nicht symbolisch ist! Ich weiß nicht, ob ich je den Mut aufbringen werde, mit ihm zu reden. Ich weiß nicht, ob ich jemals die richtigen Worte finden werde, um ihm zu erklären, wie ich mich fühle. Die Welt ist kein Ort, an dem Geduld herrscht: Geschichten wie diese tauchen bestenfalls in irgendwelchen Klatschblättern auf. Neben dem Text wäre dann ein Foto von mir, in der Küche meines Vaters, wie ich verloren in die Kamera blicke. Ohne Make-up natürlich. Nein, Justin würde mir niemals glauben, wenn ich es ihm erzählen würde – aber Taten sagen mehr als Worte.
Auf dem Rücken liegend starre ich zum Himmel empor, und die Wolken starren auf mich zurück. Neugierig ziehen sie über die Frau im Container hinweg. Immer mehr Wolken ballen sich zusammen, weil sie unbedingt selbst mitkriegen wollen, was da angeblich so interessant ist. Dann segeln sie weiter, und ich blicke in ein endloses Blau, nur gelegentlich unterbrochen von einem weißen Fetzchen. Fast kann ich meine Mutter lachen hören, und ich male mir aus, wie sie ihre Freundinnen anschubst, sie sollen sich mal ihre Tochter anschauen. Ich stelle mir vor, wie sie über eine Wolke hinweglugt und sich viel zu weit vorbeugt, genau wie Dad auf dem Balkon des Royal Opera House. Lächelnd stelle ich fest, dass mir die Situation irgendwie Spaß macht.
Während ich Staub, Wandfarbe und Holzsplitter von meinen Klamotten klopfe und aus dem Container klettere, versuche ich mich zu erinnern, welche Wünsche ihres Vaters Bea sonst noch erwähnt hat. Was sollte die Person, die er gerettet hat, sonst noch alles für ihn tun?
»Justin, beruhige dich, Himmel nochmal. Du machst mich total nervös.« Doris sitzt auf einer Trittleiter und sieht zu, wie Justin im Zimmer auf und ab tigert.
»Ich kann mich aber nicht beruhigen. Verstehst du denn nicht, was das bedeutet?« Er überreicht ihr die beiden Karten.
Sie macht große Augen. »Du hast jemandem das Leben gerettet?«
»Ja.« Achselzuckend bleibt er stehen. »Es ist echt nichts so wahnsinnig Besonderes. Manchmal muss man eben tun, was man tun muss.«
»Er hat Blut gespendet«, unterbricht Al den vergeblichen Versuch seines Bruders, bescheiden zu erscheinen.
»
Du
hast Blut gespendet?«
»So hat er Vampira kennengelernt, erinnerst du dich nicht mehr?«, hilft Al dem Gedächtnis seiner Frau auf die Sprünge. »Wenn die in Irland sagen ›Möchtest du ein Pint?‹, sollte man vorsichtig sein.«
»Sie heißt Sarah, nicht Vampira.«
»Du warst beim Blutspenden, um sie zu einem Date zu kriegen.« Doris verschränkt die Arme. »Tust du denn nie was Uneigennütziges zum Wohl der Menschheit? Immer alles nur für dich selbst?«
»Hey, ich habe ein Herz.«
»Das jetzt einen halben Liter leichter ist als vorher«, fügt Al hinzu.
»Ich hab auch eine Menge Zeit gespendet, um diversen Organisationen zu helfen – Colleges, Universitäten, Galerien –, wo man meine Fachkenntnis brauchen konnte. Was ich nicht machen muss, aber gern für andere tue.«
»Ja, und ich wette, du berechnest ihnen jedes Wort. Deshalb sagt er immer ›ach du liebe Zeit‹ statt ›Scheiße‹, wenn er sich den Zeh anstößt.«
Al und Doris halten sich den Bauch vor Lachen
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