Ich hab dich im Gefühl
zurück.
Neun
»Ich finde nichts zu essen in dieser Wohnung, wir müssen uns was bestellen«, ruft Justins Schwägerin Doris ins Wohnzimmer, während sie im Küchenschrank herumwühlt.
»Vielleicht kennst du die Frau ja irgendwoher«, meint Justins jüngerer Bruder Al, der auf einem Plastikgartenstuhl in Justins bestenfalls halb eingerichtetem Wohnzimmer sitzt.
»Nein, das ist es ja, was ich dir zu erklären versuche. Sie kommt mir bekannt vor, obwohl ich genau weiß, dass ich sie nicht
wirklich
kenne.«
»Du hast sie erkannt?«
»Ja. Hmm, nein.«
Irgendwie schon.
»Und du kennst ihren Namen.«
»Nein. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt.«
»Hey, hört mir eigentlich da drüben jemand zu oder führe ich Selbstgespräche?«, unterbricht Doris sie erneut. »Ich hab gesagt, hier gibt es nichts zu essen, und wir müssen was bestellen.«
»Ja, klar, Schatz«, ruft Al. »Vielleicht ist sie eine von deinen Studentinnen oder war mal bei einem Vortrag von dir. Erinnerst du dich normalerweise an deine Zuhörer?«
»Da sitzen Hunderte von Leuten«, erwidert Justin schulterzuckend. »Und meistens ist es dunkel.«
»Das heißt dann also nein«, fasst Al zusammen.
»Ach, vergesst das mit dem Bestellen«, meldet Doris sich wieder. »Du hast ja auch keine Teller und kein Besteck – wir müssen essen gehen.«
»Das muss ich noch mal erklären, Al. Wenn ich sage, sie kommt mir
bekannt
vor, dann meine ich, dass ich ihr Gesicht nicht wirklich kenne.«
Al runzelt die Stirn.
»Es ist nur so ein Gefühl. Als wäre sie mir irgendwie vertraut.«
Ja, das ist es – sie kam ihm vertraut vor.
»Vielleicht sieht sie nur einer Frau ähnlich, die du kennst.«
Vielleicht.
»Hey, warum hört mir eigentlich niemand zu?« Jetzt steht Doris in der Wohnzimmertür – lange Fingernägel mit Leopardenmuster, die Hüften in einer hautengen Lederhose. Doris ist fünfunddreißig, Italo-Amerikanerin, Schnellrednerin und seit zehn Jahren mit Al verheiratet. Für Justin ist sie so etwas wie eine liebenswerte, aber manchmal entsetzlich nervige kleine Schwester. An ihrem Körper befindet sich kein Gramm Fett, und alles, was sie anhat, scheint aus dem Schrank von Sandy aus
Grease
zu stammen – in ihrer verruchten Phase gegen Ende des Films natürlich.
»Ja, klar, Schatz«, sagt Al wieder, ohne sie anzusehen. »Vielleicht war es ja so ein Déjà-Dingsda.«
»Ja!«, meint Justin und schnippt mit den Fingern. »Ein Déjà-vu. Oder vielleicht ein
Déjà-vécu
oder ein
Déjà-senti
«, philosophiert er und reibt sich gedankenverloren das Kinn. »Oder ein
Déjà-visité
.«
»Was soll das denn sein?«, fragt Al, während Doris einen großen Karton als Sitzgelegenheit heranzieht und sich neben den beiden Männern niederlässt.
»
Déjà-vu
ist Französisch für ›schon gesehen‹ und beschreibt die Erfahrung, dass man eine neue Situation schon einmal erlebt zu haben meint. Der Begriff wurde von einem französischen Forscher namens Emile Boirac geprägt, der sich sehr für übersinnliche Phänomene interessierte. Er hat ihn in einem Essay publik gemacht, den er während seiner Zeit an der University of Chicago veröffentlichte.«
»Go the Maroons«, ruft Al, hebt Justins alten Pokal des Chicagoer Uni-Teams, den er als Bierglas benutzt, und trinkt ein paar große Schlucke.
Mit angewidertem Blick sieht Doris ihm zu. »Erzähl weiter, Justin.«
»Nun, ein
Déjà-vu
-Erlebnis wird gewöhnlich begleitet von einem unwiderstehlichen Gefühl der Vertrautheit, obwohl einem alles gleichzeitig unheimlich und fremd ist. Oft führt man die Erfahrung auf einen Traum zurück, obwohl sie in manchen Fällen von dem sicheren Gefühl begleitet ist, dass man die Situation in der Vergangenheit schon einmal erlebt hat. Man hat das
Déjà-vu
auch schon als eine Art Erinnerung an die Zukunft beschrieben.«
»Wow!«, haucht Doris beeindruckt.
»Und was willst du damit nun genau sagen, großer Bruder?«, erkundigt sich Al und rülpst.
»Na ja, ich glaube nicht, dass das mit mir und der Frau heute ein richtiges Déjà-vu war«, entgegnet Justin seufzend.
»Warum nicht?«
»Weil ein
Déjà-vu
sich nur aufs Sehen bezieht, und ich das Gefühl hatte … ach, ich weiß auch nicht. Ich hatte einfach ein
Gefühl
.
Déjà vécu
heißt ›schon erlebt‹, was eine Erfahrung beschreibt, die nicht nur das Visuelle umfasst, sondern auch noch das Wissen, was als Nächstes passiert.
Déjà senti
bedeutet spezifisch ›schon gefühlt‹ und
déjà visité
, dass man einen
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