Ich hab dich im Gefühl
kameradschaftlichem Schweigen, das nur gelegentlich von ein bisschen Smalltalk unterbrochen wird, gehen sie nebeneinander die Grafton Street hinunter. Vor der Statue von Molly Malone, direkt gegenüber vom Trinity College, bleiben sie automatisch stehen.
»Du bist bestimmt schon spät dran.«
»Nein, ich hab noch ein bisschen Zeit, bevor ich …« Er blickt auf die Uhr, plötzlich fällt ihm seine Ausrede wieder ein, und er merkt, dass er knallrot wird. »Tut mir leid.«
»Schon okay«, sagt sie.
»Ich hab das Gefühl, dass ich mich die ganze Zeit entschuldige, und du sagst okay.«
»Es ist ja auch wirklich okay«, lacht sie.
»Und mir tut es wirklich …«
»Stopp!« Sie hält ihm den Mund zu. »Es reicht.«
»Es war wirklich sehr nett«, stammelt er hilflos. »Sollen wir … weißt du, ich fühle mich hier gerade etwas beobachtet.«
Sie sehen nach rechts zu der Figur, die sie aus ihren bronzenen Augen unverwandt anschaut.
Sarah lacht. »Vielleicht könnten wir ja vereinbaren, dass …«
Ein furchtbares Gebrüll unterbricht sie.
Justin macht vor Schreck fast einen Satz. Direkt neben ihnen hat ein Bus an der Ampel gehalten, und aus seinem Innern dröhnt ein unglaublicher Lärm. Auch Sarah stößt einen Schrei aus und greift sich mit der Hand ans Herz. Über ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder, alle mit Wikingerhelmen auf dem Kopf, schwenken die Fäuste in der Luft, lachen und grölen. Sarah und die Leute um sie herum fangen an zu lachen, ein paar brüllen zurück, aber die meisten ignorieren das Getöse.
Aber Justin ist still, denn ihm hat es den Atem verschlagen und er kann die Augen nicht abwenden von der Frau, die neben einem alten Mann sitzt und sich den Bauch hält vor Lachen. Auf dem Kopf trägt sie einen Helm mit zwei langen blonden Zöpfen.
»Die haben wir aber drangekriegt, Joyce«, ruft der alte Mann, kichert der Frau ins Gesicht und wedelt mit der Faust.
Zuerst macht sie ein verblüfftes Gesicht, dann gibt sie dem alten Mann einen Fünf-Euro-Schein, den dieser freudig entgegennimmt, und beide brechen wieder in schallendes Gelächter aus.
Schau mich an
, fleht Justin im Stillen. Aber ihre Augen sind auf den alten Mann gerichtet, der jetzt den Geldschein gegen das Licht hält, als wollte er seine Echtheit überprüfen. Justin blickt zur Ampel. Sie ist immer noch rot. Noch hat die Frau Zeit, zu ihm herüberzusehen.
Dreh dich um. Schau mich an, nur ein einziges Mal!
Die Fußgängerampel wird gelb. Gleich ist die Zeit abgelaufen.
Sie sieht nicht her, vollkommen ins Gespräch vertieft.
Dann wird die Ampel grün, und der Bus biegt langsam in die Nassau Street. Justin geht neben ihm her und versucht, sie mit seiner ganzen Willenskraft zum Hersehen zu bewegen.
»Justin!«, ruft Sarah. »Was machst du denn da?«
Aber er geht einfach weiter, immer schneller, im Laufschritt. Er hört Sarah hinter sich rufen, aber er kann nicht stehen bleiben.
»Hey!«, ruft er.
Nicht laut genug, denn sie hört ihn nicht. Der Bus nimmt Tempo auf, Justin fängt an zu joggen und schließlich zu rennen. Massenweise Adrenalin wird durch seinen Körper gepumpt. Aber der Bus hängt ihn trotzdem ab.
»Joyce!«, brüllt er, so laut er kann. Der überraschende Klang seiner eigenen Stimme bringt ihn zum Stillstand. Was in aller Welt tut er denn da? Er beugt sich vor und stützt sich mit den Händen auf die Knie. Versucht Atem zu schöpfen, versucht sich in dem Wirbelwind, in dem er sich gefangen fühlt, zu sammeln. Ein letztes Mal schaut er dem Bus nach. Da taucht am Fenster ein Wikingerhelm mit blonden Zöpfen auf, die wie ein Pendel von einer Seite zur anderen schwingen. Das Gesicht kann er nicht erkennen, aber wenn ein einziger Kopf, ein einziger Mensch aus diesem Bus zu ihm zurückschaut, dann muss sie es sein, das weiß er.
Für einen Moment hält der Wirbelsturm inne, während er die Hand hebt und winkt.
Auch aus dem Busfenster erscheint eine Hand, dann biegt der Bus um die Ecke in die Kildare Street, und Justin sieht ihm nach, wie er verschwindet, und sein Herz klopft so heftig, dass er glaubt, es noch im Pflaster unter sich zu spüren. Zwar hat er nicht den leisesten Schimmer, was hier passiert, aber eins weiß er jetzt.
Joyce. Ihr Name ist Joyce.
Er blickt die leere Straße hinunter.
Aber wer bist du, Joyce?
*
»Warum hängst du dich so weit aus dem Fenster?« Besorgt zerrt Dad mich wieder rein. »Vielleicht hast du nicht viel, für das es sich zu leben lohnt, aber du bist es dir selbst schuldig,
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