Ich habe abgeschworen
Frauen starrten sie an, und Parvin wandte sich ab. Ich ging auf sie zu und bot ihr meine Seife an. Zwar hatte sie selbst Seife in der Hand, aber ich wollte ihr meine Unterstützung anbieten und dies auch den anderen Frauen zeigen. Parvin lächelte mich an und meinte, sie nähme wohl besser ihre eigene Seife, und bedankte sich. Sie wurde von der Lagerleitung, dem Parteikomitee der Komalah, einer Befragung unterzogen. Ja, sie war schwanger. Nein, sie werde den Namen des Kindsvaters nicht sagen. Die Parteileitung redete ihr ins Gewissen, sie müsse den Namen sagen, damit der Mann seine Verantwortung übernehmen könne. Das klang schön, aber ich konnte Parvin verstehen. Vielleicht war der Mann verheiratet, vielleicht hätte er alles abgestritten. Sie wusste, dass sie keine Chance auf ein »ehrbares« Familienleben hatte. Mit ihrer Entscheidung, sich einem Mann vor der Ehe hinzugeben, war sie das Risiko der sozialen Ächtung eingegangen. Als ich von dem Gespräch mit der Lagerleitung hörte, war ich empört darüber, was diese sich anmaßte. Das war doch keine Hilfe für eine junge, schwangere Frau, die ganz ohne Familie im Lager lebte. Nur einer dieser Genossen ist zu Parvin gegangen und hat ihr ohne Vorwurf zugehört und mitgefühlt. Parvin war vor einem halben Jahr mit einem befreundeten Ehepaar nach Kurdistan geflüchtet, nachdem ihr Vater und ihr Bruder wegen politischer Reden verhaftet worden waren. Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben. Kurz entschlossen suchte ich Parvin auf. Sie saß auf ihrem Bett in der kleinen Hütte, die sie mit zwei anderen Frauen teilte, und weinte. Da eine ihrer Zimmergenossinnen im Raum war, schlug ich einen Spaziergang vor. Zwar konnten wir uns wegen der Sicherheitslage nicht weit entfernen, doch hinter dem Lager war ein Wald, in dem man sich einige hundert Meter weit die Beine vertreten konnte. Ich sagte
Parvin, dass ich sie in keiner Weise verurteilte und dass ich ihr meine Unterstützung anbieten wolle, damit sie mit dem Kind gut leben könne. Sie freute sich und bedankte sich wieder, aber ihre Augen blieben traurig. »Ich habe den Mann geliebt. Nun ist mein Leben vorbei. Und welche Zukunft hätte mein Kind?« Ich erschrak über ihre Hoffnungslosigkeit und versuchte, ihr Mut zuzusprechen. Sie war so jung, und sicher würde man einen Weg finden, sie und ihr Kind, wenn es erst einmal kräftig genug sei, nach Europa zu bringen. Dort könne sie neu anfangen. Sie schien mir nicht überzeugt, aber schließlich lächelte sie mich zaghaft an. Wir gingen ins Lager zurück, und ich sagte ihr, dass ich am nächsten Tag mit der Lagerleitung sprechen würde. Etwa zwei Stunden später hörte ich einen Schuss. Ein Schuss bedeutete im Lager meist einen Selbstmord, das kam nicht häufig, aber immer einmal wieder vor. Menschen verzweifelten an der Enge, dem Krieg und an persönlichen Problemen. Ich wusste sofort, was passiert war, bevor es mir jemand sagte: Parvin hatte sich erschossen. Erschossen, weil die Leute sie wegen ihrer Schwangerschaft verurteilten, statt ihr zu helfen. Auch ihr Freund hatte sie im Stich gelassen. Ich lief zu ihrer Hütte und sah, wie sie herausgetragen wurde. Noch vor zwei Stunden war sie voller Leben gewesen – aber ihre Verzweiflung war stärker. Ich ging zur Lagerleitung und wollte das Thema »uneheliche Schwangerschaft« auf den Tisch bringen. In meinen Augen waren die Mitglieder des Komitees mitverantwortlich an Parvins Tod. Aber man bügelte mich unwirsch ab. Das wäre eine Privatsache, es sei Krieg, und man hätte wichtigere Dinge zu tun. In diesen Zeiten müsse man sich auf alle verlassen können, »eine Frau, die unehelich schwanger wird, ist nicht zuverlässig«. Angesichts solch hanebüchenen Unsinns wurde ich wütend, aber ich spürte, dass ich wenig Gehör finden würde, und gab für den Augenblick auf. Zur Trauerfeier am nächsten Tag kam nur eine Handvoll Menschen. Ich sprach am Grab Parvins, die von selbstgerechten Moralaposteln in den Selbstmord getrieben worden war.
Zudem organisierte ich eine Gedenkveranstaltung, die auch gegen die Doppelmoral der Lagerleitung gewandt war. Im Lager sprach sich so etwas schnell herum, und es kamen an die 50 Menschen – aber einige Uneinsichtige waren auch dabei: Einige der anwesenden Männer diskutierten hochemotional, einer stand sogar auf und nannte mich eine Schlampe.
Ein Jahr später bekam ich diese Moral noch einmal zu spüren, diesmal betraf es mich direkt: Ein Kollege in der Radiostation des Lagers fing an,
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