Ich habe abgeschworen
mit mir zu flirten. Ganz dezent, er sagte »hübsche Kollegin« und solche Dinge und lächelte mich kurz an, wenn er mir etwas sagte. Wir arbeiteten im gleichen Raum, so gab es reichlich Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich war nicht verliebt, aber ich ließ ihn immer näher herankommen. Ich fühlte mich allein, und er war ein hochgewachsener Mann mit charmanten Manieren. Er konnte sich gut ausdrücken, hatte einen Doktortitel und war Lehrer. Ich fragte ihn nach seiner Familie, und er erklärte mir, er sei geschieden, seine Frau lebe mit ihren beiden Kindern im Iran. Bald begannen wir eine Beziehung. Nun war es im Lager nicht nur so, dass allgemein getratscht wurde über das (vermeintliche) Liebesleben der Mitgenossen, sondern es wurde auch erwartet, dass man Beziehungen der Parteileitung im Lager mitteilte.
Dieser Druck war spürbar, und ich beschloss, in die Offensive zu gehen. Ich ging zum Parteivorsitzenden und sagte ihm, dass ich mit dem Kollegen zusammen sei. Und quasi noch am selben Tag wussten alle: Mina ist mit einem verheirateten Mann zusammen, der sogar noch zwei Kinder hat! Als mir das zu Ohren kam, natürlich nicht direkt, erklärte ich immer wieder, dass mein neuer Freund geschieden sei.
Drei Tage später bekam ich einen offiziellen Brief vom Vorsitzenden der Komalah: Mein Verhalten sei unkommunistisch und unmoralisch! Es war wie ein blauer Brief für Schüler in Deutschland! Ich war wie vor den Kopf gestoßen: Unmoralisch? Unkommunistisch? Die meisten schienen so zu denken, es wurde weiterhin hörbar getuschelt. Mein Freund hielt die Belastung viel weniger aus als ich, er wurde depressiv. Eines Nachmittags nach der Arbeit kam er in mein Zelt und hielt eine Pistole in der Hand. Aufgeregt fuchtelte er mit der Waffe: »Mina, ich bringe mich um. Ich halte dieses Gerede nicht mehr aus!« Ich bekam Angst, die Waffe schien nicht nur geladen, sondern auch entsichert zu sein. Deshalb versuchte ich, ruhig zu bleiben und ihn zum Abgeben der Pistole zu bewegen. »Komm, gib mir deine Waffe, dann können wir erst einmal reden.« Er schüttelte den Kopf und fuchtelte mit den Händen. »Nein, das hat doch keinen Zweck!«, rief er und lief hinaus. Voller Sorge rannte ich hinterher, doch er war schon im Wald verschwunden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, melden wollte ich den Vorfall nicht, um ihm keine Scherereien zu machen. Abends sah ich ihn an einer Feuerstelle, ohne Pistole, im Gespräch mit einem Freund. Ich war erleichtert, aber ich fühlte mich auch von ihm verlassen und schrecklich allein. Dieses Klima der moralischen Entrüstung bedrückte mich sehr. Am nächsten Tag setzte ich mich ein Stück in die Berge ab, weit konnte man nicht gehen, ohne Gefahr zu laufen, einer Armeepatrouille in die Arme zu laufen, und dachte stundenlang nach, was ich tun sollte. Mich umbringen? Nein, das kam nicht in Frage. Weggehen? Wohin? In den Iran? Das wäre auch Selbstmord gewesen. Nach zwei Monaten habe ich dann zu meinem Freund gesagt, dass ich mich von ihm trennen wolle. Wir konnten unsere Verbindung nicht mehr unbeschwert leben, und da ich nach wie vor nicht wirklich verliebt war, spürte ich nur noch Mitleid, keine gute Grundlage für eine Liebesbeziehung.
Drei Monate später kamen seine Frau und seine Kinder ins Lager, er war gar nicht geschieden, sondern hatte nur mit seiner Frau über eine mögliche Trennung gesprochen. Wieder wurde getuschelt, deshalb ging ich nach der Arbeit zu dieser Frau und stellte mich vor. Auch sie schien schon von mir gehört zu haben, schickte ihre Kinder aus der Hütte und fragte mich, was denn nun wirklich losgewesen wäre. Das fand ich beeindruckend, und es gab mir die Möglichkeit, meine Sichtweise zu erklären, denn für mich war er ja seiner Erklärung nach ein ungebundener Mann gewesen. Sie und ich wurden Freundinnen und gingen häufig demonstrativ zusammen zum Mittagessen. Wir haben uns gegen die Moralapostel verbündet. Aber natürlich hat niemand etwas laut zu uns gesagt. Nach einem Monat ist sie nach Europa gegangen, und dann haben die beiden sich wirklich scheiden lassen.
Obwohl es weit und breit keinen Mullah gab, gab es eine Art Standesamt im Lager, dort wurde offiziell geheiratet, es wurde gefeiert, und dann durfte man mit dem Mann zusammen sein. Wenn man bedenkt, dass im Lager auf zehn Männer zwei Frauen kamen, ahnt man, dass wir Frauen allesamt gute Chancen auf einen Ehemann hatten.
Je nationalistischer die Männer waren, desto weniger hielten sie von der
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