Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich habe abgeschworen

Ich habe abgeschworen

Titel: Ich habe abgeschworen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mina Ahadi , Sina Vogt
Vom Netzwerk:
körperliche Gebrechen hatten, litten besonders unter dem Leben in den einfachen Hütten. Die Leitung der Komalah, der das Lager unterstand, brachte von Zeit zu Zeit kleine Menschengruppen nach Europa. Der Weg führte über den Irak, meist über den Flughafen in Bagdad. Die irakische Führung hat dies inoffiziell unterstützt, die Feindschaft des Irak zum Iran hat uns bei den Fluchtplänen geholfen. Vorrang hatten die Kranken, alte Menschen und Kinder. Ich war jung und kinderlos, und ich liebte meine Arbeit in unserer Radiostation, die bis weit in den Iran hinein sendete. Doch nach meiner zweiten Hochzeit sehnten mein Mann und ich uns immer mehr nach einem normalen Familienleben. Ich merkte auf einmal, dass ich das karge Essen satt hatte, den beengten Raum, die fehlende Intimsphäre. Neben der Arbeit gab es trotz wöchentlichem Fest und Sport zu wenige Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Heute denke ich manchmal: Meine Güte, wie hast du das so lange ausgehalten, dieses beengte Leben in der mit den Jahren immer mehr wachsenden Angst vor Angriffen, sowohl durch die iranische wie später auch durch die irakische Armee. 1990 wurde mir schließlich von der Lagerleitung mitgeteilt, dass ich mit einer Gruppe von fünf Frauen und Männern nach Wien fliehen konnte. Wohin in Europa eine Gruppe aufbrach, hing davon ab, welchen Weg die Fluchthelfer gerade für den günstigsten hielten. Auf der einen Seite hatte ich mich gefreut, aus dem Lager fortzukommen. Aber ich wusste auch, dass ich in ein Land ging, wo ich niemanden kannte und dessen Sprache ich nicht sprach. Wien, Österreich – was würde mich dort erwarten? Traurig war ich auch, dass mein Mann nicht sofort mitkommen konnte. Dass Ehepaare durch die Flucht für Monate auseinandergerissen wurden, geschah häufiger. Irgendjemand von der Leitung des Lagers drückte mir ein Buch über Österreich in die Hand, einen englischen Reiseführer. Meine Reise würde keine touristische sein, aber mit Hilfe des Buches lernte ich, wie viele Einwohner Wien hat und welches Klima in den Alpen herrscht. Heute kann ich mich nur noch an drei Dinge erinnern, die mir beim Lesen aus irgendeinem Grund besonders in Erinnerung geblieben sind: Die Lebenserwartung von Frauen ist höher als die der Männer, die Landesflagge ist rot-weiß-rot, und es wird Deutsch gesprochen.
    Wir fuhren in einem Auto nach Bagdad, eine Gruppe von fünf Leuten, zwei Männer und drei Frauen. Zwei Tage hielten wir uns bei einem Helfer in Bagdad auf und kauften erst einmal Kleidung. Nach zehn Jahren in Uniform und Kleidung aus Hilfspaketen war ich es nicht mehr gewohnt, einzukaufen. So beobachtete ich zunächst, was die Menschen in der Stadt überhaupt trugen. In Bagdad sah man 1990 viele Frauen in westlicher Kleidung. Da wir nicht viel Geld hatten, suchte ich mir in einer Art Secondhand-Laden einen braunen Rock und eine helle Bluse aus. In den Bergen hatte ich derbes Schuhwerk getragen, nun wählte ich schwarze Schnürschuhe aus, die nicht allzu klobig aussahen, aber doch einen echten Stilbruch zum Rock ausmachten. Aber die Flucht war aufregend genug, da brauchte ich einen sicheren Stand, und meine Füße waren nicht mehr an Damenschuhe gewöhnt.
    Keiner aus unserer Gruppe hatte Papiere. Ich war ja schon ohne Ausweis vom Iran nach Kurdistan geflüchtet, und für die Lagerverwaltung der Komalah hatten meine Angaben von Name und Geburtsdatum gereicht.
    Wir bekamen in Bagdad gefälschte Dokumente durch unsere Fluchthelfer. Ich vermute, dass es irakische Ausweise waren, aber ich habe in all der Aufregung nicht genau hingeschaut und weiß es nicht mehr. Ich war laut Ausweis mit einem der mitreisenden Männer verheiratet, daran kann ich mich noch erinnern. Wir kamen jedenfalls mit den Papieren wohlbehalten durch die Zollkontrollen und hoben schließlich mit dem Flugzeug Richtung Wien ab.
    Für mich war es der erste Flug überhaupt. Direkt neben mir saß mein angeblicher Ehemann. Ich schaute ihm immer wieder über die Schulter, die fremden Menschen waren für mich neu und aufregend, da sie so anders wirkten als meine Kameradinnen und Kameraden in den Bergen. Ich war froh, dass das Lagerleben hinter mir lag, doch dachte ich auch wehmütig an die zurückgelassenen Freunde und vor allem an Mohammad, meinen Mann. Ich hoffte nur, dass sie alle überleben würden und ich ihn bald wiedersehen würde – in Freiheit, in Europa.
    Uns war die Anweisung gegeben worden, die Ausweise im Flugzeug zu vernichten. Also habe ich meinen in der

Weitere Kostenlose Bücher