Ich habe abgeschworen
in Kanada, ist offen lesbisch. Ich habe vor einigen Monaten auf einer Tagung ihre Tante getroffen, und diese fragte mich, ob ich von der Homosexualität ihrer Nichte gewusst hätte. »Ja«, antwortete ich, »wir wussten das alle.« »Sie war aber sehr einsam, damals, als lesbische Widerstandskämpferin in den kurdischen Bergen.« »Ja«, konnte ich nur noch einmal antworten, »wir waren auch noch in alten Moralvorstellungen gefangen, auch ich. Es tut mir leid, aber so war es.« Homosexuelle Paare konnten natürlich nicht gemeinsam eine Hütte nehmen, so wie ich und mein Mann nach unserer Lagerhochzeit.
Ich habe viele menschlich schwierige Situationen erlebt, über Jahre mit nur wenigen hundert Menschen auf engem Raum, im Krieg von Angriffen bedroht. So gab es Eltern, die ihre Kinder auf der Flucht zurückgelassen hatten, um ihr eigenes Leben zu retten, oder weil sie hofften, die Kinder seien bei Verwandten in Sicherheit. Sie hatten oft über Jahre keinen Kontakt zu ihren Kindern, Sehnsucht mischte sich dabei oft mit Schuldgefühlen, als Eltern versagt zu haben.
Ich habe von meiner Mutter in den zehn Jahren, die ich in Kurdistan gelebt habe, genau einen Brief erhalten. Natürlich gab es keine Adresse, an die man einfach einen Brief schicken konnte. Also war ein Verbindungsmann der Komalah einmal zu meiner Mutter gegangen und hatte ihr berichtet, dass ich in Sicherheit sei. Diesem hatte sie einige Zeilen mitgeben können, die Wochen später über verschiedene Träger bis zu mir gelangt waren. Einen weiteren Kontakt auf diesem Wege aufrechtzuerhalten, wäre aber viel zu gefährlich gewesen. Im Alltag hat man all diese Konflikte ignoriert, so getan, als sei es gar nicht so schwer. Meine Mutter hatte keinen Kontakt nach Kurdistan, keine Vorstellung, wie ich dort lebte. Sie hatte Angst um mich, für sie war Kurdistan einfach nur gefährlich. Ich habe in der Zeit im Lager sogar meinen Geburtstag vergessen, so etwas war nicht mehr wichtig, nicht mehr real.
Meine Freundin Susan war Anfang der 80er-Jahre nach Paris geflüchtet, sie schrieb mir des Öfteren und schickte Päckchen mit Kleidung. Über den Irak waren die Verbindungswege zwar auch sehr langsam, aber durch Boten der Komalah kam ab und an Post von Unterstützern aus Europa bis zu uns. 1987 kam sie dann über den Irak zu Besuch in unser Lager und lernte einen Mann kennen und lieben. Sie blieb mit ihm in Kurdistan, bis sie 1990 nach Schweden gingen, die beiden leben dort noch heute mit ihren zwei Kindern, Susan arbeitet als Sozialarbeiterin, nachdem sie in Schweden noch einmal studiert hat. Sie war immer die Fleißigere von uns beiden. Heute besuchen wir uns regelmäßig und telefonieren jede Woche miteinander.
Nach dem Zusammenschluss der Komalah und der Gruppe Sahand um Mansoor Hekmat zur Kommunistischen Partei Iran, gründeten wir im Zentrallager eine Schule. Ich wurde die Leiterin und organisierte den Lehrplan und die Lehrkräfte. Für drei Monate kamen nun jeweils rund 70 Partisanen aus den Bergen ins Lager und drückten die Schulbank. Viele, die sich unserem Kampf gegen das iranische Regime angeschlossen hatten, hatten kaum Bildung genossen. Deshalb lehrten wir mitunter auch Lesen und Schreiben. Dazu kamen Politik, marxistische Theorie, Geschichte und Partisanenkriegsführung. Denn im Krieg befanden wir uns.
Ebenso wichtig war mir der andere Teil der Ausbildung – Schulung in Menschen- und Frauenrechten. Denn gerade im Krieg wurden diese Rechte als Randprobleme behandelt, wie die Geschichte der jungen Schwangeren bezeugt. Diesen Fehler, die scheinbar kleinen zwischenmenschlichen Konflikte in Zeiten des Krieges zurückzustellen, haben Untergrundorganisationen in allen Zeiten immer wieder gemacht, und wir waren auch nicht davor gefeit. Der Feind sollte draußen bleiben in dieser Extremsituation des Partisanenlagers, wo man eng aufeinandersaß. Mit der Schule wollten wir deshalb auch dafür sorgen, dass die Menschen trotz des Krieges nicht ihre Menschlichkeit verloren oder gar vergaßen. Manchmal ging es um offensichtlich wichtige Fragen wie die, ob Frauen Waffen tragen durften – sie durften schließlich, was schon zur Selbstverteidigung unabdingbar war und trotzdem manchen Männern nicht einleuchten wollte.
Kleidung schien dagegen scheinbar unwichtig, aber die Frage, ob das Oberteil der Frauen, beide Geschlechter trugen lange Hosen, weiter und damit unpraktischer sein sollte als das der Männer, wurde heftig diskutiert. Denn es ging um die Frage nach der
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